„Träumst Du?“, wollte man am liebsten und ganz schnell das Mädchen „Nele“ am Ende der Kurzgeschichte fragen. – Sie passt zu diesem Sonntag, diesem möglichen Tag von Familien, die „Kuschel-Höhlen“ kennen. Mehr davon in der Kurzgeschichte unserer Trierer Autorin Kristina Schulz:
FAMILIENTHEATER
Sie parkten unter dem Viehmarkt und Papi zog kräftig am Stäbchen zwischen den Sitzen.
„Was heißt denn Vieh?“ fragte Nele.
„Du hättest zuerst auf den Theaterparkplatz fahren sollen“, sagte Mami. „Wenigstens, um -“
„Das Familienmusical ist ausgebucht, da ist nichts mehr frei. Die hundert Meter werden dich nicht umbringen.“
„Es ist nicht meinetwegen, sondern wegen Nele! Es schüttet wie verrückt und ihre Erkältung ist erst eine Woche her!“
Mami stieg aus und schlug die Tür so stark zu, dass es dem Auto bestimmt wehtat. Draußen war es dunkel, sie beeilten sich, aber Nele konnte noch erkennen, wie es in den Pfützen glitzerte und die Bläschen darin aufsprangen und platzten. Mami hielt ihre linke Hand, Papi die rechte, die Regenschirme schaukelten schabend über ihren Köpfen. Es könnte so kuschelig sein wie in einer Höhle – wenn sie nur nicht so drücken würden. Plötzlich wurde Nele hochgehoben und von Papi mit großen Schritten davongetragen. Er sagte:
„So ist’s besser, da bleiben die Prinzessinnenschuhe trocken.“
Mamis Schuhe klackerten hinter ihnen, sie lief ein bisschen ungeschickt und konnte sie nicht einholen.
Im Theater gaben sie ihre Jacken einer Frau mit Haaren schwarz wie Ebenholz und Lippen rot wie Blut. Sie gab ihnen drei Metallplättchen mit Zahlen. Die ihre und Neles steckte Mami in die Handtasche. Sie lächelte schnell, fragte:
„Freust du dich auf das Musical, ja?“
Nele nickte, damit Mami sich vielleicht auch freute. Weil Papi sein Plättchen in die Hosentasche stecken musste, fragte sie ihn:
„Was heißt denn Vieh?“
„Tier.“
Sie betraten den Raum mit der großen Glaswand, wo viele Leute, auch Kinder, standen, etwas tranken und redeten.
„Hat man den Viehmarkt in Trier gebaut, weil Trier sich fast so anhört wie Tier?“
„Willst du eine Cola?“ fragte Papi.
„Nein, will sie nicht“, antwortete Mami. „Die kommt aus dem Kühlschrank, merkst du was?“
Als sie im Großen Saal saßen, Nele auf dem Platz zwischen Papi und Mami, fiel ihr noch etwas ein:
„Wo geht Mowgli hin, wenn das Musical vorbei ist?“
„In sein Dschungel-Zuhause“, antwortete Mami.
Papi rieb sich zwischen den Augenbrauen. Das bedeutete, dass ihm etwas nicht gefiel.
„Ist das Dschungel-Zuhause weit weg?“ fragte ihn Nele.
„Nein“, sagte Papi. „Es ist ein ganz normaler Junge, der Mowgli spielt. Andere Jungen und Mädchen spielen Balu, Baghira und so weiter.“
„Tolle Erklärung“, sagte Mami streng.
„Lügen sie dann, dass sie Mowgli und Balu sind?“ staunte Nele.
„Jetzt bin ich mal gespannt, du Theaterexperte“, sagte Mami. Aber Papi schüttelte nur den Kopf und schaute geradeaus.
Nele hätte gern gewusst, was ein Experte war, es hörte sich nicht wie ein Schimpfwort an, aber auch nicht wie etwas Gutes. Papi war Verkäufer in einem riesigen Baumarkt. Außerdem war er Koatsch, weil er jeden Mittwoch und Freitag zum Sportplatz ging, um großen Jungen Fußball beizubringen. Nele konnte sich nicht erinnern, dass er irgendwann „Ich bin Experte“ gesagt hätte. Vielleicht war er heimlich Experte, Mami hatte es herausgefunden und war gestern deswegen so böse geworden, am Wochenende auch, und hatte Papi mit schlimmen Wörtern benannt und er sie.
Die großen Türen wurden geschlossen, das Licht ging aus, der Bühnenvorhang fuhr auseinander und zeigte dicke Baumstämme, hängende Äste und lange Blätter. Wieder war es für Nele wie in einer Kuschel-Höhle, wenn nur Mami und Papi etwas näher bei ihr säßen.
Wenn irgendein Junge Mowgli spielt, stellte sie sich vor, kann ich so was dann auch? Eine Prinzessin spielen, die in einem Schloss wohnt, oder in einer Höhle, egal, mit Papi und Mami, die sich morgens fröhlich „Guten Morgen“ sagen, fröhlich unter dem Viehmarkt parken, fröhlich ins Familienmusical gehen?
Papi würde sie auf dem Rücken tragen und Mami an der Hand halten, damit sie nicht auf ihren hohen Schuhen umknickte. Das wäre kein Lügen, das wäre ein Spiel. Und wenn sie das ganz lange und ganz schön spielten, dann würden sie vielleicht in Echt eine schöne Familie werden.
© Kristina Schulz und © Maisenbacher Medien GmbH
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