Die kleine Rockhal, in der die „Neal Morse Band“ heute auf ihrer „The Road Called Home“-Tour gastiert, wirkt fast mickrig für derart geballtes musikalisches Know-How, was sich heute in Form des komplett präsentierten Doppel-Konzept-Albums „The Similitude of a Dream“ in Luxemburg entladen wird.
Trier / Esch-sur-Alzette. Das mit Mike Portnoy und dem unglaublich wandlungsfähigen Newcomer Eric Gillette zwei der an ihren Instrumenten besten Musiker der Welt auf die Bretter steigen, lässt sich angesichts des übersichtlichen Luxemburger Publikums kaum glauben. Mike Portnoy ist bekannt geworden als ehemaliger Schlagzeuger der Progressive Metal-Institution „Dream Theater“ und hat seit seinem Ausstieg ein buntes Portfolio an Gastauftritten und musikalischen Projekten gestartet, bei dem selbst Fans schnell den Überblick verlieren. Zur größeren Einordnung: er trommelte zwischenzeitlich bei „Avenged Sevenfold“, half bei „Stone Sour“ aus und ersetzte den verstorbenen A.J. Pero bei „Twisted Sister“, mit denen er zuletzt beim legendären Wacken Open-Air eine Headliner-Show vor rund 80.000 Zuschauern spielte.
Heute sind es deutlich weniger, aber das soll den Spaß in der kleinen Halle nicht schmälern. Die Musik von Neal Morse, mit dem Portnoy mittlerweile 18 gemeinsame Alben auf den Markt gebracht hat, ist auch nicht mit dem Party Rock der Marke „I Wanna Rock“ vergleichbar. Die 5-köpfige Band performt puren Progressiv Rock, kurz Prog Rock, eine Musikrichtung, die von ausschweifenden Kompositionen, technischen Passagen, Stil-Kreuzungen und regelrechten musikalischen Erzählungen lebt. So schrauben sich die Songs von Neal Morse auch schnell mal in zweistellige Minuten-Angaben und wechseln mit spielerischer Leichtigkeit zwischen technischer Meisterleistung, groovenden Riffs, balladesken Momenten und mehrstimmigen Höhepunkten.
Heute steht „The Similitude of a Dream“ im Vordergrund, das aktuelle Album der Band, welches erneut nicht mit Superlativen hinter dem Berg hält. Hinter dem Werk versteckt sich ein waschechtes Konzept-Doppelalbum, welches eine zusammenhängende Geschichte auf 2 CDs erzählt, die auf dem christlichen Erbauungsbuch „The Pilgrim’s Progress“ aus dem Jahre 1678 beruht. Neal Morse ist ein überzeugter Christ, der 2002 seine Hauptband „Spock’s Beard“ verließ, weil er sich von Gott zu Höherem berufen fühlte und seitdem mit seiner Solo-Truppe erfolgreich durch die Welt tourt. Wer mit der religiösen Schlagseite seiner Texte nicht klarkommt, hat heute ausnahmsweise das genaue Gegenteil gleich um die Ecke zur Auswahl: in der großen Rockhal spielen in direkter Nachbarschaft zur christlichen Prog-Show die als Päpste verkleideten Satan-Hard-Rocker „Ghost“.
Während bei den Düster-Rockern noch die Vorbands lärmen, legt die Neal Morse Band ohne große Umschweife um 20.15 Uhr los. Es gilt keine Zeit zu verschwenden, schließlich beträgt die Laufzeit von „The Similitude of a Dream“ schon fast 2 Stunden. Dementsprechend geht es auch ohne Umschweife direkt mit dem Konzept-Album, was in der Fachpresse als eines der besten Prog-Releases des letzten Jahres gelobt wurde, los. Morse kommt mit Kapuze bekleidet und nur von einer kleinen Taschenlampe angeleuchtet auf die Bühne und singt die ersten Takte solo mit der orchestralen Begleitung vom Band. Das wirkt angesichts der kleinen Tour-Produktion durchaus gut gelöst und bläst den Moment, in dem die ganze Band schließlich einsetzt umso größer auf. Die illustre Kombo hinter dem stets sympathisch-missionarisch auftretenden Frontmann versteht es, trotz kleinen Locations und auch vor kleinem Publikum die Wirkung ihrer Show zu maximieren und auch ohne audiovisuelle Effektsalven von Beginn an episch in die Breite zu ziehen.
Die ersten Momente von „The Similitude of a Dream“ klingen perfekt, sound-technisch ziemlich ideal ausgesteuert und einfach nur groß. Dabei fordert die „Overture“ als erstes komplettes Stück für die Band nach dem Intro vom Band gleich die gesamte Mannschaft. Die Instrumentalnummer ist Progressive Rock in Reinkultur und peitscht den Zuhörer durch eine Takt- und Stimmungs-Achterbahn, die im Sekundentakt ihr Gesicht wechselt. Hier als Musiker den Überblick zu behalten, scheint beinahe unmöglich, doch das Quintett findet eine Ordnung im vermeintlichen Chaos und spielt zu 100% auf den Punkt. Maßgeblich daran beteiligt ist natürlich Schlagzeuger Mike Portnoy, der seine Kollegen mit beinahe schlafwandlerischer Sicherheit durch den Taktsalat manövriert, sowie Eric Gillette, der aufstrebende Stern am Gitarristen-Himmel, der wirklich jede geforderte Spielform dieses Albums mit Bravour und unglaublichem Feeling meistert. Und das sind so einige…
Egal ob Heavy Rocker, gefühlvolle Ballade oder kurze Jazz-Sektionen, die Musik der Neal Morse Band könnte in ihren abenteuerlichen Stil-Kombinationen nicht abwechslungsreicher sein. Selbst kurze mehrstimmige A Cappella-Momente werden inmitten der technischen Passagen auf den Punkt genau zum Besten gegeben. Auch das Zepter des Lead-Sängers wird in der Band herumgereicht, wie ein Wanderpokal. Nicht nur Neal Morse, sondern auch Gitarrist Eric Gillette, Keyboarder Bill Hubauer und sogar Drummer Mike Portnoy übernehmen den Gesang in vereinzelten Songs und überzeugen alle auf ihre ganz eigene Weise. Besonders in Erinnerung bleibt vor allem der Gitarrist, der fast facettenreicher durch die Lieder führt, als Morse selbst.
Durch den Kontext des Konzeptalbums finden die Jungs aber auf geradezu meisterhafte Weise immer wieder zu den verschiedenen Hauptmotiven der Platte zurück, so dass die Geschichte mit zunehmender Laufzeit immer vertrauter wird und gleichzeitig immer enorm abwechslungsreich bleibt. Eine recht lange Pause im Set zwischen den zwei CDs hätte es nicht unbedingt gebraucht, lässt sich aber angesichts der spielerischen Leistung verschmerzen. Dafür tritt die Band nach dem Break fast noch gelöster auf und hat deutlich mehr Kontakt zum Publikum, dass die sympathischen Ansagen seiner Taktsalat-Helden mit viel Begeisterung aufnimmt. Bei den Songs beschränkt sich die Publikumsreaktion wie bei Progressive Rock-Konzerten üblich auf konzentriertes Zuhören, vereinzeltes verhaltenes Mitsingen und hier und da mal ein bisschen Mitklatschen. Viele Fans des Genres sind selbst Musiker und verfolgen jede Sektion der komplexen Songs mit Argus-Augen mit, dabei bieten erstaunlich viele der vertrackten Kompositionen durchaus Ohrwurm-Potenzial mit eingängigen Hooklines.
In der zweiten Hälfte fällt allerdings auch auf, dass eine etwas gerafftere Erzählung, sprich etwas weniger überflüssiges Gewicht hier und da, dem Album vielleicht noch etwas mehr Biss verliehen hätte. Mike Portnoy plädierte in der Produktionsphase übrigens für ein Konzeptalbum auf nur einer CD, während der Rest der Band ein Doppel-Album wollte. Weniger wäre in diesem Fall vielleicht sogar noch etwas mehr gewesen. Nach Ende der regulären Spielzeit, die mit deutlich über 2 Stunden schon die meisten normalen Konzerte überschreitet, lässt man es sich trotzdem nicht nehmen, noch mit einer Zugabe auf die Bühne zu kommen. Diese fällt in der Rockhal mit 2 Songs etwas kompakter aus als in vorangegangen Shows, wo es nochmal bis zu 4 Lieder im Zugabenblock zu bestaunen gab. Immerhin ist mit „The Call“ auch heute ein Longtrack dabei, der zum krönenden Abschluss nach Gänsehaut-erzeugendem A Cappella-Intro nochmal die 10-Minuten-Marke knackt. Damit stimmt man nicht unbedingt alle Fans der ersten Stunde glücklich, die sich sicherlich einen stärkeren Fokus auf älterem Material gewünscht hätten, aber die exklusive Konzentration auf „The Similitude of a Dream“ war bei dieser Tour von Anfang an beschlossene Sache.
Und der Scheibe, die Ende vergangenen Jahres die Prog-Welt regelrecht verzückte, kommt das radikale Konzert-Konzept zweifellos entgegen, kann sich doch nur so die zusammenhängende Geschichte mit all ihren wiederkehrenden Motiven und Höhepunkten voll und ganz entfalten. Dabei überzeugen Neal Morse und seine Jungs mit Instrumental-Skills nicht von dieser Welt und einer glasklaren Auf-den-Punkt-Performance, die durch die enorme Vielseitigkeit und ansteckende Spielfreude noch zusätzlich veredelt wird. Schade, dass die nur einem so verhältnismäßig kleinen Publikum zu Teil wird, was aber gleichzeitig die andere Seite der Prog-Rock-Medaille zeigt: derart komplexe, manchmal auch verkopfte Musik hat auf dem Massenmarkt leider keine Chance, wo Radio-Tauglichkeit und Tanzbarkeit an vorderster Front stehen.
Fotos: Tamara Holper
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