Europa ist Paris, ist Berlin, ist Trier. Die gestrige Anschlag-Serie ab etwa 21.30 im Pariser Stadtzentrum lässt mich den redaktionellen Alltag, diesen ausschließlichen Blick auf Trier, für einen Moment unterbrechen.
In Paris wurden Besucher in dem Musikclub „Bataclan“ während eines Konzerts mit Maschinengewehren angegriffen und für drei Stunden als Geißeln gehalten. Etwa einhundert Menschen verloren ihr Leben. In der Rue Alibert, Rue Bichat oder Rue de la Fontaine au Roi wurden Menschen in Restaurants mit Maschinengewehrsalven hingerichtet.
Es ist nicht mehr ein gezielter Ort, wie die Redaktion „Charlie Hebdo“, die das konkrete Ziel von Terroristen am 7. Januar 2015 war. Der gestrige Anschlag hat jedem einzelnen etwas Schockierendes vor Augen geführt. Jedes ICH kann als essendes, sprechendes, hörendes, lachendes, diskutierendes oder gar verliebtes Teil des WIR zum Ziel terroristischer Anschläge werden.
Damit wird eine Drohung unweigerlich ausgesprochen, wird Macht demonstriert. Die Wiederholung soll sich einprägen, und vor allem die Orte, die gewählt wurden: Dort wo WIR uns aufhalten wurde mit Maschinengewehren geschossen. Das WIR soll in seiner Bedeutung geschwächt und zerstört werden.
Wenn der im Januar formulierte Slogan „Je Suis Charlie“ noch eine Identifizierung bzw. Solidarisierung mit einer Redaktion und damit einem „geschlossenen Kreis“ dargestellt hat, ist dieser „geschlossene Kreis“ mit der gestrigen Attentat-Serie aufgebrochen. Mit einem Mal wird jeder und damit jedes einzelne ICH des WIR zu einem möglichen Ziel.
Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit
Diese drei Worte gelten als Leitspruch gegen jede Form der Unterdrückung, gegen jede Macht, die das WIR – in welcher Form auch immer – einschränken will. Diese drei Worte – spontan sind sie mir in Bezug auf das gestrige Attentat in Paris eingefallen – sollten allerdings auch die europäische Antwort auf die Attentate sein.
Denn das WIR wird erst dann zu einem terrorisierten, wenn es sich verbarrikadiert, sich lähmt und – im aktuellen und hochsensiblem Raum der Flüchtlingsproblematik – nach einem Mehr als nur den tatsächlich Schuldigen sucht.
FREIHEIT ist, sich keine Fesseln anlegen zu lassen, aber auch keine Fesseln anzulegen. Freiheit ist ein so zerbrechliches Gut, das das WIR mit seiner Überzeugtheit nur schützen kann. Freiheit darf nicht mit Freigheit verwechselt werden. Freiheit ist eine Idee, die jeder einzelne im WIR – also im Miteinander – darstellt und verteidigen kann.
GLEICHHEIT ist, alle, die das WIR mit ausmachenden, nicht wegen ihrer Sprache, ihrer Herkunft, ihrer Ansichten, ihrer Meinungen und ihren Wünschen, Zielen oder ihrem Glauben auszugrenzen. Es gibt kein „besseren Gleichsein“ sondern nur „ein Gleichsein“. Wenn das WIR sich auf die Waage der Gleichheit stellt, ist jedes ICH gleich schwer und damit gleich viel wert.
BRÜDERLICHKEIT ist bzw. bedeutet, dass das WIR in seiner Umarmung eine eigene Macht darstellt, die über die Gleichheit und über die Freiheit über das triumphiert, was in der terroristischen Art und Weise mit den gestrigen Attentaten vernichtet werden sollte:
Die Freiheit und die Gleichheit und die Brüderlichkeit.
Wenn wir uns also solidarisieren, wir um die getöteten Menschen in Paris trauern, so solidarisieren wir uns und trauern wir mit dem ICH. Dem ich, das genauso in einem Restaurant – wo auch immer in Europa – sitzen kann. Dem ich, das im großen Kreis des WIR – den freien, gleichen und brüderlich gesinnten ICHS – seinen Aufenthaltsort weiß.
Das ist unser Glauben, unsere Idee, die ein Anschlag – wie gestern in Paris – nicht vernichten darf. Vernichtend wäre, wenn unsere Tränen zur Blindheit führten und wir uns zu Dingen verführen lassen, die uns zu Gefangenen in der Freiheit machen.
Illustration: Raphael Wlotzki
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