„Volksverräter“ ist das neue Unwort des Jahres 2016. Die sprachkritische Aktion „Unwort des Jahres“ sorgt jedes Jahr für einen Medienhype und das ist wohl auch eine Voraussetzung für das, was sie bewirken soll: Nämlich die Menschen für ihre Sprache zu sensibilisieren. Spielend leicht finden bestimmte Begriffe ihren Gebrauch in unserer Alltagssprache und wir machen uns keine Gedanken mehr darüber, was sie eigentlich aussagen. Das Unwort des Jahres macht genau darauf aufmerksam. Wir von 5vier haben uns mit dem ständigen Mitglied der Jury und Professor an der Universität Trier Dr. Martin Wengeler getroffen und ihn nach seiner persönlichen Einschätzung der sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“ befragt.
Die Idee zu einer sprachkritischen Aktion entstand 1991 zufällig nach einem Vortrag. Da es bereits ein Wort des Jahres gab, stellte Prof. Dr. Horst Dieter Schlosser (Frankfurt am Main) die Frage: „Brauchen wir ein Unwort des Jahres?“ Diese Idee stieß auf so viel Resonanz, dass die sprachkritische Aktion „Unwort des Jahres“ im selben Jahr von ihm ins Leben gerufen wurde: Anfangs unter dem Dach der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden, die das „Wort des Jahres“ kürt, ist die sprachkritische Aktion seit 1994 institutionell unabhängig.
Prof. Dr. Martin Wengeler ist seit 2006 ständiges Mitglied der Jury, die jährlich das Unwort des Jahres auswählt.
„Da mein Forschungsschwerpunkt auf Sprache und Politik liegt, wurde ich gefragt, ob ich Mitglied der sprachkritischen Aktion werden möchte, und habe zugestimmt.“
Gemeinsam mit der momentanen Sprecherin Prof. Dr. Nina Janich, Prof. Dr. Margot Heinemann und Prof. Dr. Horst Dieter Schlosser wählte er bis 2010 die Unwörter des Jahres: 2006: freiwillige Ausreise; 2007: Herdprämie; 2008: notleidende Banken; 2009: betriebsratverseucht; 2010: alternativlos.
Das Unwort des Jahres: Ein medialer Druck für die Jury
2011 kam es dann zu einer internen Umorientierung. Zwei der ständigen Mitglieder, unter ihnen der Sprecher Prof. Schlosser, schieden aus Altersgründen aus der Jury aus und Wengeler stand zusammen mit der jetzigen Sprecherin der Jury Prof. Dr. Nina Janich, vor der Entscheidung, ob die Aktion weiterarbeiten sollte.
„Für mich sprach dagegen, dass ich mich gefragt habe, ob ich mich weiterhin diesem Medienhype aussetzen wollte. Das Unwort des Jahres löst jährlich eine große Debatte in der Öffentlichkeit aus. Für mich persönlich ist es anstrengend, sich jedes Jahr aufs Neue diesem Trubel auszusetzen“, erzählt Wengeler.
Doch Wengeler und seine Kollegin Janich, die bereit war, die Funktion der Sprecherin zu übernehmen und damit im Fokus der Medienaufmerksamkeit zu stehen, entschieden sich dafür, mit zwei neuen Kollegen zusammen die Aktion fortzusetzen, was sicherlich keine falsche Entscheidung war, da das Unwort des Jahres eine wichtige Stimme im politischen Diskurs darstellt.
„Wir versuchen die Grenzen des öffentlich Sagbaren anzumahnen“, so Wengeler.
Doch oft sehen sie sich mit dem Vorwurf konfrontiert, Zensur zu betreiben. Das Unwort des Jahres schränke die Meinungsfreiheit und den freien Sprachgebrauch ein.
„Das Unwort des Jahres ist Zensur“
„Solcher Kritik müssen wir uns immer wieder stellen. Doch wollen wir nur eine kritischere Betrachtung des Sprachgebrauchs erreichen. Manchmal fragen wir uns, ob das Unwort des Jahres nicht zu viel Aufmerksamkeit schafft“, so Wengeler.
Eine berechtigte Aussage, denn das gewählte Wort läuft Gefahr, erst recht populär zu werden.
Auch wenn die Aktion einen wichtigen Anstoß in der öffentlichen Debatte um Sprachgebrauch liefert und die Menschen sich dadurch bewusst machen können, wie Sprache verwendet wird, steht Wengeler der ganzen Aktion dennoch auch selbstkritisch gegenüber.
„Davon einmal abgesehen, dass ich mich mit der Bezeichnung ‚Unwort‘ schwertue, da sie eben als Sprechverbot interpretiert werden kann, bin ich in Bezug auf Sprache und Sprachwandel allgemein ein Vertreter der These ‚leave your language alone“, erklärt Wengeler.
Nach seiner Ansicht gehört demnach der Sprachwandel zu einer Gesellschaft dazu. Es stellt sich die Frage, ob man wirklich in solch einen Prozess eingreifen soll. Sprache befindet sich stets im Wandel und jeder sollte so reden können, wie er möchte. In dieses Recht möchte die sprachkritische Aktion nicht eingreifen, sondern eben eher politisch-moralisch begründete Grenzen des öffentlich Sagbaren aufzeigen. Es geht um Begriffe, die gegen die Prinzipien der Menschenwürde oder der Demokratie verstoßen, die gesellschaftliche Gruppen diskriminieren oder die euphemistisch, verschleiernd oder irreführend sind.
Zur Person Prof. Dr. Martin Wengeler:
Tätigkeit: Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Trier.
Arbeitsschwerpunkte:
- Deutsche Sprachgeschichte nach 1945;
- Sprachkritik;
- Argumentationsanalyse;
- Politische Sprache;
- Linguistische Diskursgeschichte;
- Linguistik als Kulturwissenschaft.
Forschungsprojekte:
- Diskursanalyse des öffentlichen Sprachgebrauchs der Weimarer Republik
- Sprachliche Konstruktion sozial- und wirtschaftspolitischer Krisen in der Bundesrepublik Deutschland von 1973 bis heute
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