Von Andreas Gniffke
Von der „Schottischen Furche“ über das WM-System bis zur Doppelsechs: Schon seit den Anfängen des Fußballsports machte man sich Gedanken über die ideale Taktik auf dem grünen Rasen. Systeme waren Wandlungen unterworfen, Regeln wurden geändert und neue Lösungen mussten gefunden werden. Doch ist heute noch, in einer weitestgehend globalisierten Fußballwelt, mit taktischen Revolutionen zu rechnen? Ein aktuelles Buch wirft den Blick zurück, wagt aber auch eine Bestandsaufnahme und blickt in die Zukunft.
Sollte nichts Unvorhergesehenes geschehen und ausgerechnet Bayer Leverkusen den Tabellenführer auf der Zielgerade noch überholen, wird sich in Kürze wohl Borussia Dortmund als Deutscher Fußballmeister feiern lassen dürfen. Die Mannschaft überzeugte mit einem jugendlich-ungestümen System, das anspruchsvolles Passspiel mit überfallartigen Kontern verband und viele Gegner nur staunend zurückließ. Aggressives Pressing und ein schnelles Umschalten nach Ballgewinn führte trotz eines kompakten 4-2-3-1-Systems zu einer Spielweise, die auch neutrale Beobachter begeistern konnte. Dabei sorgt allerdings weniger das System für die Dominanz der Dortmunder, sondern die Umsetzung durch enorme Laufbereitschaft und eine hohe Grundschnelligkeit. „Wir haben dabei kein neues System erfunden, wir drücken einfach unsere Taktik durch“, wird Trainer Jürgen Klopp zitiert, der spätestens seit seiner Arbeit als TV-Experte am Taktiktisch als Systemguru wahrgenommen wird.
Werden Spielsysteme im modernen Fußball überschätzt?
Spielt das System heute also möglicherweise überhaupt keine Rolle mehr und sind Athletik und Technik das entscheidenden Element auf dem Platz? Wie so oft vermag der Blick in die Vergangenheit wertvolle Aufschlüsse zu geben und mit der gerade erschienenen Geschichte der Fußballtaktik des Engländers Jonathan Wilson liegt ein 2008 im Original erschienenes Standardwerk zu dieser Thematik nun erstmals in einer deutschen Übersetzung vor. Zwar kommt Wilson immer wieder auf Entwicklungen im Mutterland des Fußballs zurück, sein Buch hat aber eine durchgehend globale Ausrichtung. Deutschland spielt dabei nur eine Nebenrolle, allerdings völlig zu recht, wie Christoph Biermann, Autor und Fußballjournalist, in seiner Einleitung bemerkt:
Deutschland war damals eine Fußballnation mit eher unterentwickeltem Interesse an taktischen Fragen und sollte es auch noch lange bleiben. Wie auch in England ging es hier vor allem um Mannschaftsgeist und Kampfesmut, um die richtige Einstellung und unbeugsamen Willen. Das ist auch der Grund dafür, dass der deutsche Beitrag zur Taktikgeschichte eher bescheiden ist und, wie das Beispiel Beckenbauer zeigt, vor allem in intelligenten Adaptionen von ausländischen Ideen besteht.
Franz Beckenbauers offensive Interpretation des Liberos stellt tatsächlich eine der wenigen taktischen Neuerungen dar, die der deutsche Fußball dem Weltfußball gebracht hat, wobei sich der Kaiser vor allem bei Besuchen in Italien (er wäre nach der WM 1966 beinahe zu Inter Mailand gewechselt) hat inspirieren lassen.
Von Klosterschülern zu Weltstars
Jonathan Wilson, Sportjournalist und preisgekrönter Buchautor, beginnt seine Ausführungen auf den Fußballplätzen der englischen Privat- und Klosterschulen, als noch ohne ein festes Regelwerk die Grundlagen des modernen Fußballspiels gelegt wurden. Zunächst wurde der Sport noch als Mittel benutzt, über das Spiel im Team die Persönlichkeit der Schüler im Dienste des British Empire reifen zu lassen und darüber hinaus dem schädlichen Einfluss der Onanie entgegenzuwirken. Mit der Gründung der Football Association (FA) im Jahr 1863 wurde der Fußballsport und seine Regeln immer weiter vereinheitlicht und die Grundlagen für das Spiel gelegt, wie wir es heute kennen. Wilson beschreibt erste Entwicklungen wie das sog. „WM-System“, im Prinzip ein 3-4-3, die Blütezeit des österreichischen Fußballs um Matthias Sindelar in den frühen 30er Jahren, die glanzvolle Rolle der ungarischen Nationalmannschaft bis zur Niederlage gegen Deutschland 1954, Brasilien unter Pelé und die taktischen Neuerungen im Russland der 60er und 70er Jahre. Dem berüchtigten italienischen Catenaccio widmet er ein eigenes Kapitel, ebenso wie dem „totalen Fußball“ der Holländer in den 60er und frühen 70er Jahren, der unter Johan Cruyff letzten Endes auch in Barcelona Früchte trug, wahrscheinlich bis heute.
Effektivität versus Schönheit
Erfolgstrainer wie Real Madrids José Mourinho stehen im Ruf, Taktikfüchse zu sein, wobei vor allem Mourinhos Stil des fußballerischen Pragmatismus regelmäßig die Kritiker auf den Plan ruft. Dass eine streng auf Defensive ausgerichtete Strategie wie beim Champions-League Heimspiel in dieser Woche gegen den Erzrivalen FC Barcelona (0:2 durch zwei Tore von Lionel Messi) böse nach hinten losgehen kann, dürfte Anhänger des attraktiven Offensivspiels freuen. Ganz sicher auch Johan Cruyff, ehemaliger Spieler und Trainer von Barcelona, der Mourinho erst kürzlich heftig kritisierte und ihn als Titeltrainer, nicht als Fußballtrainer bezeichnete, der die Schönheit des Spiels dem Erfolg opfere. Aber ist das nicht das eigentliche Ziel des Spiels? Cruyffs Wut ist dabei durchaus biographisch begründet. Eng mit seinem Namen verbunden ist der sog. Totaalvoetbal, der die Zuschauer in den späten 60er und frühen 70er Jahren begeisterte. Maßgeblich geprägt von Trainer Rinus Michels, führte ein auf bedingungslose Laufbereitschaft und kreative Offensive begründeter Stil vor allem Ajax Amsterdam aber auch die holländische Nationalmannschaft von Sieg zu Sieg. Doch gerade die unglückliche Finalniederlage der Holländer bei der WM 1974 gegen Deutschland, als sie zwar den schönsten Fußball des Turniers spielten, aber von deutscher Effektivität besiegt wurden, sitzt immer noch wie ein tiefer Stachel im nationalen Empfinden unserer Nachbarn und bei Cruyff wohl auch persönlich.
Heute scheint das Interesse an taktischen Fragen bei den deutschen Fußballinteressierten deutlich angewachsen zu sein. Wurde vor wenigen Jahren noch „Professor Rangnick“ nach einem TV-Auftritt belächelt, als er an einer Tafel etwas altklug die Vorzüge der damals in Deutschland weitgehend unbekannten Viererkette erklärte, sind taktische Erläuterungen im Umfeld von Fußballübertragungen heute an der Tagesordnung, auch wenn sich die Systeme in der Regel nur minimal unterscheiden.
Taktikfüchse im Amateurfußball?
Doch ist das Einüben taktischer Feinheiten ein Privileg der Profi- und Nationalmannschaften, oder kann man auch auf Amateurebene Mannschaften durch eine strategische Neuorientierung verbessern? Komplexe Strategien erfordern häufig eine intensive Abstimmung zwischen den Mannschaftsteilen und Spielern, die nur durch aufwändiges Training zu erreichen ist. Unmöglich im Amateurbereich. Doch auch kleinere Umstellungen können manchmal große Wirkung erzeugen. Ein Beispiel mag die Leistung von Mosella Schweich in der Rheinlandliga-Rückrunde sein. In der Hinrunde noch im Dunstkreis der Abstiegsplätze, mauserte sich die Truppe von Trainer Hans Schneider in der Rückrunde zum Favoritenschreck und rangiert in der Rückrundentabelle zur Zeit auf Platz sechs. Ein Grund hierfür war sicherlich eine taktische Umstellung, weg von einem altmodischen 3-5-2-System hin zu einem modernen 4-5-1-System, was durch einen variabel agierenden Andreas Schneider als Bindeglied von Sturm und Mittelfeld schnell zu einem 4-4-2-werden kann. Dazu übernehmen auf den Flügeln Sebastian Pelzer und Eugen Keller sowohl offensive als auch defensive Aufgaben, so dass sich die Mannschaft in beiden Bereichen stabilisiert hat. Die Hinzunahme eines weiteren Abwehrspielers führte also keineswegs zu einer defensiveren Spielweise, sondern bot auch in der Offensive eine Vielzahl von Anspielstationen und somit ein hohes Maß an Unberechenbarkeit.
Das ist tatsächlich eine moderne Interpretation des Offensivspiels und Wilson philosophiert in seinem Ausblick vor allem über die Zukunft des Stürmers. Er hat keinen Zweifel, dass ein 4-6-0-System in Zukunft eine Option sein dürfte, das heißt ein Spiel ohne nominelle Spitze, aber mit einer Reihe von offensiv agierenden Mittelfeldspielern vom Typ Lionel Messi. Die Zeiten eines Kalle Riedle oder Gerd Müller sind definitiv vorbei, genau wie die Zeiten des klassischen Spielmachers schon längst Geschichte sind.
Wilsons Buch ist flüssig und gut lesbar geschrieben (sowie übersetzt) und schafft es so, dieses auf den ersten Blick etwas dröge Thema auf eine unterhaltsame Art und Weise aufzubereiten. In England wurde „Inverting the Pyramid“, so der Titel des Originals, gefeiert und zum Fußballbuch des Jahres gewählt und ist ein absoluter Lesetipp für Menschen, die dem Wesen des Fußballspiels etwas tiefer auf den Grund gehen wollen.
Jonathan Wilson
Revolutionen auf dem Rasen – Eine Geschichte der Fußballtaktik
Mit einer Einführung zur deutschen Ausgabe von Christoph Biermann
Aus dem Englischen übersetzt von Markus Montz
Verlag Die Werkstatt, 19,90 €
ISBN: 978-3-89533-769-7
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