Auf La Gomera gibt es eine Legende: Sechs von sieben Wellen sind absolut berechenbar, verlaufen wie man es von einer braven Welle gewöhnt ist. Doch die siebte Welle schlägt völlig aus der Art, sie ist unberechenbar, ungewöhnlich und wenn sie den Strand wieder verlässt, ist nichts mehr so, wie es noch zuvor gewesen ist. Alle sieben Wellen also…
Leo und Emmi sind solche Wellen füreinander. Es ist nun genau ein Jahr her, da brach Leo den regen Emailverkehr mit seiner virtuellen Herzensdame Emmi ab, zog Hals über Kopf nach Boston und ward nicht mehr gesehen. Bis Emmi feststellen muss, dass in Leos Wohnung wieder Licht brennt. Sie tippt ihm eine Email und bekommt tatsächlich Antwort. Leo ist wieder da. Und schnell gehen die Emails wieder hin und her. Doch dieses mal ist etwas anders: Leo hat eine Freundin, Pamela aus Boston, und sie wird zu ihm ziehen. Auch Emmi und Bernhard sind nach wie vor verheiratet, zwar unter sehr abgekühlten Bedingungen, aber nichtsdestotrotz nach wie vor verheiratet. Aber ein Treffen, das muss doch jetzt nach einem Jahr wohl mal drin sein. Also trifft man sich einmal. Zweimal. Dreimal. Die Affäre nimmt ihren Lauf. Bis die Frage aufkommt, warum Leo den Kontakt damals abbrach und eine weitere Email auftaucht.
Nicht nur die Fortsetzung von Daniel Glattauers Roman „Gut gegen Nordwind“ wurde mit Sehnsucht erwartet, auch auf die, nach der Vorlage erstellte, Stückfassung wurde hingefiebert. Wer den ersten Teil von Emmis und Leos Geschichte in der letzten Spielzeit gesehen hat, wird sich nun mit großer Sicherheit auch den zweiten Teil ansehen wollen. Vielleicht sogar müssen. Zu sehr wurmt das traurige, unerfüllte Ende dieser beiden Liebenden, die sich in den schönsten Worten ihre Gefühle in die Tastatur hämmerten und sich doch nicht ein einziges Mal sehen konnten. Inszeniert wurde in der letzten Spielzeit von Werner Tritschler, die Hauptrollen spielten Vanessa Daun und Jan Brunhoeber und getreu dem Motto „Never change a running system“ bleibt das Trio auch in dieser Spielzeit vereint. Doch gelingt es auch dieses Mal die Spannung aufrecht zu erhalten, die Einmaligkeit in den Charakteren der Figuren heraus zu kitzeln, den Zauber der Inszenierung erneut zu beschwören? Ja, es gelingt.
Langersehnte Fortsetzung
In wenigen Zitaten wird rekapituliert, wie alles begann, dann gehts direkt ans Eingemachte und dem Zuschauer kommt es vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass er dem letzten Absatz in der letzten Email von Emmi und Leo gelauscht hatte. Erneut nähern sich Emmi und Leo, alias Daun und Brunhoeber, an, nur um sich im nächsten Moment wieder in ihre Schneckenhäuser zurück zu ziehen. Erneut weist das Spiel der beiden eine starke Körperlichkeit auf, sie tanzen, zucken, klettern und toben über die Bühne, lassen Finger und Gliedmaßen für sich sprechen und sind dann wieder ruhig und eng umschlungen. Hier trägt die Inszenierung unleugbar Tritschlers Handschrift. Überhaupt kann man die Leistungen der Schauspieler kaum ohne die Leistungen ihres Regisseurs bewerten. Zeigt sich doch noch deutlicher als letztes Jahr die starke Zusammenarbeit der drei. In unzähligen Ideen bleibt die Inszenierung in jeder Minute spannend, wer hier Längen finden will muss schon suchen. Mit Leib und Seele spielen sich die beiden Schauspieler die Bälle zu ohne sich gegenseitig auszuspielen, setzen die Ideen ihres Regisseurs um als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Ein besonders schöner Clou, um nur eines der vielen Beispiele zu nennen, ist die betrunkene Emmi oder vielmehr der betrunkene Zeigefinger von Emmi, der anhand dreier Whiskeygläser ihre Bedenken zu Leo erläutert. Hier macht Zusehen nicht nur Spaß, viel eher wird das Wegsehen zu einer Qual. Könnte man doch nur ein zartes Detail der Inszenierung und der hervorragenden Darsteller verpassen.
Herzschmerz garantiert
Die Stimmung der Inszenierung ist dabei um einiges emotionaler, schließlich haben beide nun ein „Gesicht“. Man kennt sich, hat sich gesehen, gesprochen, berührt und gerochen. Die Sehnsucht hat nicht mehr nur einen Namen, sie hat Berührungspunkte. Auch das Herz des Zuschauers wird berührt, alles ist näher, aber auch unerreichbarer und somit trauriger. Der Song „Ohne dich“ von Rammstein bringt es da auf den Punkt: „Ohne dich kann ich nicht sein. Mit dir bin ich auch allein.“
Das Bühnenbild von Susanne Weibler wurde aus der letzten Inszenierung weitestgehend beibehalten, allerdings umgestellt und um einige Details wie etwa die zwei Jalousinenwände erweitert. Passend zum Thema, schließlich hatte sich auch einiges im Leben der beiden umgestellt und erweitert. Die Kostüme von Carola Vollath sind nicht nur schön anzusehen, sie markieren auch Wendepunkte in der Handlung, man „sieht“, dass sich etwas verändert hat.
Letztendlich brennt natürlich die Frage unter den Nägeln ob sich die beiden nun doch noch kriegen. Und auch wenn die letzten Worte der beiden mit „Bis gleich“ schon alles gesagt haben könnten, spricht ein Blick doch meistens mehr als tausend Worte. Die Frage muss wohl weiter bleiben, Antworten findet der Zuschauer wieder mal nur in sich selbst.
Wer „Gut gegen Nordwind“ mochte, der wird „Alle sieben Wellen“ lieben. Zwei unglaublich intensive Hauptdarsteller, eine vielseitige, detailverliebte Inszenierung, eine Liebesgeschichte, die einen nachts mit Herzschmerz aufwachen lässt. Gesamturteil: Unbedingt ansehen!
Fotos: Theater Trier
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