Von Oliver Maywurm
Die Autoren Andreas Spohr, Heiko Buschmann und Uli Hesse, die das Spiel des heutigen Stars durch ihre Tätigkeit als Journalisten (u.a. bei RevierSport oder Bravo Sport) teilweise bereits lange vor seinem Aufstieg zum Weltklassespieler kannten, zeichnen in ihrem Buch „Mesut Özil – Auf dem Weg zum Weltstar“ dessen fußballerischen und damit verbundenen menschlichen Werdegang nach. Alle Stationen seiner Karriere werden beleuchtet, von den Bolzplatz-Anfängen bis zu Real Madrid und ins deutsche Nationalteam. Alte Weggefährten, Trainer, Mitspieler, Freunde oder Förderer kommen zu Wort und bereiten Mesuts Weg lebendig und mit vielen illustrierenden, hochwertigen Fotografien leicht rezipierbar auf. Die biografischen Elemente haben alle einen Bezug zum Fußball, Privates außerhalb vom runden Leder wird maximal angerissen. Speziell: Die prägnante sowie stilistisch wertvolle Beschreibung Özils von Ästhetik und intuitiver Kreativität geprägten Spiels zieht sich wie ein roter Faden durch alle Passagen des Buches, das die Liebe zum schönen Fußball sprießen lässt und nebenbei von Integration berichtet.
Nur zwei Belege aus jüngster Zeit für das, worüber das Werk der drei Schreiber berichtet: Champions-League-Achtelfinale, Manchester United gegen Real Madrid. Gonzalo Higuain hat im Strafraum den Ball, spielt kurz auf Özil, der die Situation blitzschnell erkennt und das technische Rüstzeug hat, den Doppelpass hinter dem Standbein um den Gegenspieler herum zu spielen und somit Higuain die perfekte Ausgangsposition für die Torvorlage zum entscheidenden 2:1 zu ermöglichen.
Länderspiel Frankreich gegen Deutschland: Mesut Özil bekommt die Kugel in der Mitte der gegnerischen Hälfte. Selbst am Fernsehschirm erkennt wohl kaum jemand den Passweg, die Lücke in der französischen Defensivreihe, die Özil kurz darauf mit einem zentimetergenauen, wie an der Schnur gezogenen Ball auf Sami Khedira zur Vorarbeit des 2:1 ausnutzt, ohne sich mit einem überflüssigen Blick der Richtigkeit seiner Entscheidung und der genauen Ausführung versichern zu müssen. Eine Aktion wie ein inspirierendes Gemälde, vom Verlassen des Fußes bis zum Ankommen beim Mitspieler genial.
Im Buch wird die Wegstrecke hin zu dieser Präzision und erfrischenden Genialität, die Özil mittlerweile regelmäßig auf seinen Arbeitsplatz zaubert, mit Ausdruck beseelt.
Unscheinbar im Alltag, spektakulär auf dem Fußballplatz
Der Vergleich mit Superman, der in den Text einführt, mutet zwar etwas übertrieben heroisch an, lässt jedoch tatsächlich stimmige Parallelen zu Mesut Özil ziehen. Nicht nur, dass Özil inzwischen am Berühmtheitsgrad des Comic-Helden kratzt, sondern vor allem, dass der Zehner von Real Madrid genau wie er im Alltag eine eher unspektakuläre Erscheinung ist: Demütig, zurückhaltend, häufig gar schüchtern zeigt Özil sich außerhalb des Fußballplatzes. Warum diese Charakterzüge ihn trotzdem nicht daran hindern, ein wichtiger Spieler bei einem Weltverein wie Real Madrid zu sein?
“ Mesut Özil hat die beneidenswerte Gabe, alles auszublenden, was ihn von seiner eigentlichen Mission ablenken könnte. Und diese Mission lautet: Fußball spielen. Gut Fußball spielen.“
Wenn er in sein imaginäres Superman-Kostüm schlüpft und ein Ball seine Füße umgibt, ist es vorbei mit der Zurückhaltung und von Hemmungen nichts mehr zu erahnen. Auf dem Platz scheint er sich einen Tunnel bauen zu können, in dem es nur ihn, die geliebte Kugel und das Spielen mit den Teamkollegen gibt. Die Liebe zum Leder verleiht ihm Flügel, er vergisst alles andere um sich herum und ist fernab von schüchterner Einhaltung irgendwelcher lästiger Formalitäten bei einem Fernsehinterview. Er darf einfach nur spielen und man merkt förmlich, wie er sich dabei selbst befreit.
Alles begann im „Affenkäfig“
Das Talent bekam er in die Wiege gelegt. Aber wie begann das Feilen daran, das ihn heute das Ziel erreichen ließ, den Traum vom schönen Spiel eigens zu verwirklichen? Die Autoren geben Einblicke in die Anfänge auf dem „Affenkäfig“, einem Bolzplatz in Gelsenkirchen-Bismarck:
„Klein, eng, ein hoher Zaun, zwei Handballtore, perfekt für einen echten Straßenkicker (…) Hier wird der heutige Weltstar Mesut Özil fußballerisch geboren.“
Alte Mitspieler und Trainer von seinen ersten Vereinen DJK Westfalia Gelsenkirchen (F- bis D-Jugend) und Rot-Weiß Essen (D- bis B-Jugend) erzählen von ihren Erinnerungen an Özil, als Mensch und als Fußballer. So sagt beispielsweise sein F-Jugend-Trainer:
“ ‚Er war sehr klein und dünn, außerdem hat er kaum gesprochen (…). ‚Aber wenn er auf dem Platz war, war er genau das Gegenteil.‘ „
Es entstehen wertvolle Einblicke in die Zeit, als der Star von heute noch ein – natürlich schon damals nicht ganz gewöhnlicher – Jugendkicker war. Bilder aus diesen Tagen leisten einen weiteren Authentizität stiftenden Beitrag.
Genauso mit Stimmen von Zeitzeugen und tollen Fotos behandelt werden Juniorenzeit und Sprung zum Profi auf Schalke, die mysteriöse Flucht nach Bremen, seine Rolle in der DFB-Elf, sowie der kometenhafte internationale Aufstieg seit dem Wechsel zu Real Madrid nach der WM 2010, und warum er dort für viele überraschend auch mental bestehen und reifen konnte. Aussagen von Trainergrößen wie Guus Hiddink und Joachim Löw, Interviews mit Lukas Podolski und Kevin Kuranyi vertiefen die Einblicke in das Spezielle an Özils Spielkünsten.
Das Ziel, das er zu jeder Zeit im Kopf hatte und inzwischen erreicht hat, wird dabei so stimmig wie lesenswert erklärt: Sein Spiel als Regisseur, als moderner Zehner in den großen Arenen der Fußballwelt. Die Quintessenz daraus treffen die niemals zu langatmig gestalteten Texte auf den Punkt: Özils elegante Bewegungen auf engstem Raum, unter höchstem Gegnerdruck und mit maximaler Körper- und Ballbeherrschung kennen keine Einschränkungen, sind grenzenlos.
Spiel ohne Grenzen plus taktische Disziplin
Es ist nicht nur sein phänomenal gefühlvoller Umgang mit dem Ball, sondern auch seine Beweglichkeit und Spielintelligenz, mit denen er durch kleine, aber feine Geistesblitze festgefahrenen Spielzügen neue Perspektiven eröffnen kann. Seine Übersicht auf dem Feld deckt auch die periphersten Bereiche ab. Typisch für einen Straßenfußballer wie ihn: Man hat in seinen Aktionen nie das Gefühl, dass er auf Sackgassen stößt, weil der Kreativitäts-Motor in seinem vor Inspiration nur so strotzenden Denkzentrum auf Hochtouren läuft. Dadurch kann er die Skizzen in seinem Kopf für Pässe, Körpertäuschungen, Dribblings oder Torabschlüsse auch mal in letzter Sekunde ändern und so für das Unerwartete sorgen, geniale Momente en Masse produzieren. Und das Beste: Weil er das Spiel liebt und verinnerlicht, ob im „Affenkäfig“ oder im Bernabeu, tut er sich nie schwer damit, will seine sprühende Freude daran stets mit den Mitspielern teilen und sich selbst ein Stück Zufriedenheit verschaffen, indem er den Ball streichelt und dazu beiträgt, Tore im wahrsten Sinne des Wortes zu kreieren.
„In Mesut Özils Traum vom Spiel gibt es keine Unterbrechungen, keine abrupten Stopps, nichts Abgehacktes oder Einsames“, resümieren die Autoren, was sie ausführlich in Worte fassen und womit sie es schaffen, ihre Begeisterung für Özils Handeln auf dem Grün den Leser wahrheitsnah begreifen zu lassen.
Treffend sind auch die analytischen Vergleiche mit ehemaligen deutschen Mittelfeldregisseuren wie Günter Netzer und Wolfgang Overath oder aktuellen Weltstars wie Cristiano Ronaldo und Lionel Messi gewählt. Die Autoren legen dar, inwieweit Özil eine weiter entwickelte Form der Netzers und Overaths verinnerlicht, die ihn dazu befähigt, auch im modernen Fußball bei Trainern wie Jose Mourinho oder Jogi Löw, die viel Wert auf taktische Disziplin legen, Stammspieler zu sein.
Den Vergleich mit Ronaldo oder Messi sehen Kritiker des Buches als zu hoch gegriffen. Doch die Verfasser beabsichtigen gar nicht, Özil mit den bombastischen Torquoten und Fähigkeiten der beiden zu messen:
„Und Özil hat, reduziert man es auf den Bereich des Messbaren, wenig zu bieten, was ihn bereits jetzt für den Kreis der Legenden des Weltfußballs qualifiziert. Sein Antritt ist zwar schnell, aber nicht ausgesprochen explosiv. (…) Seine Torquote war und ist für einen offensiven Mittelfeldspieler der absoluten Weltklasse eher unbeachtlich (…).“
Was Spohr, Buschmann und Hesse mit Özils Spiel vereint, ist jedoch die Liebe zur Schönheit im Detail: „Özils Genie ist durch reine Zahlen nicht zu fassen.“ Sondern durch seine oben erwähnten vor Ästhetik fast überlaufenden Szenen, die Schönheit und Effektivität oft ineinander integrieren können. Dabei spricht aus den demütigen Formulierungen der Autoren Mesuts eigene Demut vor dem Fußballspiel. Jeder, der schon einmal von Özils Aktionen begeistert wurde, wird das Buch daher verschlingen und seine Ansichten darin wieder erkennen.
Vorreiter für Integration
Özils Auftreten, so lassen die Ausführungen im Buch schlussfolgern, spiegelt derweil auch das wieder, wofür er in der Öffentlichkeit häufig gebraucht wird: Das Gesicht für gelungene Integration von Menschen mit Migrationshintergund in Deutschlands Gesellschaft.
Seine Entscheidung, für den DFB zu spielen, die verständlicherweise die Meinungen seiner türkischen Landsleute in zwei Lager spaltet, wird in diesem Zusammenhang mit dem Aufhänger des EM-Qualifikationsspiels gegen die Türkei in Berlin thematisiert, bei dem Özil selbst ein Tor zum 3:0-Sieg beisteuerte.
Im Zuge dieser fußballerischen Entscheidung pro Geburtsland erblicken die Buchtexte das riesige, oft verkannte multikulturelle Potenzial, das nicht nur gesellschaftlich, sondern auch im Fußball in Deutschland schlummert. Die Autoren erklären, warum Özil nicht für das Deutschland spielt, das traurigerweise immer noch mit Vorurteilen aus den Verfehlungen der NS-Zeit leben muss, sondern für das neue, facettenreichere Deutschland, das verschiedene Mentalitäten zu einer Einheit verschmelzen lassen kann. Zieht man Özils Spiel als Exempel heran, vereinen sich so türkischer Freigeist und der Sinn für das Überraschende aus seinem Vaterland nebst deutschen Tugenden wie Disziplin und Ehrgeiz, mit denen er ebenso aufwuchs, zu einer sich perfekt ergänzenden Mischung. Land und gleichsam das Spiel der wichtigsten Elf sind auch wegen der Özils darin heute nicht mehr so starr wie noch vor zehn, zwanzig Jahren häufig.
“ ‚Ich spiele für Deutschland, weil ich mich als Deutscher fühle. Gleichzeitig betone ich aber, dass ich stolz bin auf meine türkischen Wurzeln.‘ „
Um die Entwicklung des wohl bekanntesten Vorreiters dieses Potenzials authentisch, umfassend, sehr schön geschrieben und reichhaltig bebildert nachzuverfolgen, ist das Lesen dieses Buches sehr, sehr empfehlenswert. Die knapp 140 Seiten bilden einen adäquaten Rahmen, um die Özil-Faszination, die hier nur angedeutet werden kann, in all ihrem Ausmaß erfassen zu können.
Andreas Spohr, Heiko Buschmann und Uli Hesse: Mesut Özil – Auf dem Weg zum Weltstar
1. Auflage 2012, Delius Klasing Verlag, 19,90 Euro.
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