Der Fußball befindet sich in einer Ausnahmesituation: Saisonabbrüche, Saisonfortführungen, Geisterspiele, geringe Zuschauerkapazitäten, leere Tribünen, Sondergenehmigungen – wie muss man die aktuelle Situation bewerten? Und vor allem, wie soll es weitergehen? Diese und viele weitere Fragen stellten sich die Diskussionsteilnehmer von Verein und Fanszenen in der Trierer Tufa. Ein Austausch, der von den Zuschauern als sehr positiv bewertet wurde und möglichst, auch mit anderen Themen, regelmäßig wiederholt werden sollte.
Trier. Die Corona-Krise hat auch im deutschen Fußball viele Fragen aufgeworfen. Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit, Nähe zu Fans, zirkulierende (Un)Summen – vieles war schon vorher Thema, allerdings gab es kaum die nötige Auseinandersetzung dazu. Mittlerweile finden die Debatten in der nötigen Tiefe statt. Am Dienstag passiert das in der Tufa auf Initiative von INSANE ULTRA in Kooperation des Fanprojekt Trier.
Der Abend findet mit einer ganz neuen Brisanz statt. Das Fanprojekt Trier läuft unter der Trägerschaft des Exhaus Trier – beziehungsweise lief. Erst kürzlich musste der Verein endgültig Insolvenz anmelden. Zwar sind die Betroffenen insgesamt optimistisch, dass das „FP“ unter neuer Trägerschaft weitergeführt werden kann, allerdings steht noch so manche Klärung aus. Mit Hiobsbotschaften kennen sich die Mitarbeiter aus. Es bleibt zu hoffen, dass diese bald ein Ende haben.
Moderiert wird der Abend von Benjamin Judith. Das Gesicht aller Moderationen die die Eintracht betreffen, beginnt die Runde mit einer klaren Botschaft: „Fußball gehört den Zuschauern, den Fans!“ Inwieweit diese Aussage die Realität abbildet, wird im Laufe des Abends thematisiert.
5 Fanvertreter, 1 Vereinsvertreter
Die Teilnehmer lauten Alfons Jochem, Vorstand von Eintracht-Trier, Thomas Kessen, Sprecher von „Unsere Kurve“ und ehemaliger Mitarbeiter des Fanprojekt Triers, Lukas Keuser vom Fanprojekt Trier und mit Raphael Acloque, Thorsten Fusenig und Tim Etten drei Vertreter der Trierer Fanszene. Es haben sich zahlreiche Interessierte im großen Saal der Tufa, mit mindestens einem Sitzplatz Abstand, zusammengefunden.
Früh wird klar, dass die Gesprächsteilnehmer in den meisten angesprochenen Bereichen ähnliche Bedenken, Kritiken, aber auch Hoffnungen teilen. Eine Sorge die Thomas Kessen umtreibt, ist, dass die aktuelle Regelung der personalisierten Tickets ein Dauerzustand bleibt. Er befürwortet die aktuelle Regelung wegen der Rückverfolgung des Infektionsgeschehens, allerdings ist ihm bewusst, wie schwer sich Behörden und Gesetzgeber damit tun, eingeschlagene Wege wieder zu verlassen. Dass Misstrauen der Fan-Vertreter ist groß, dass das ein neuer Standard werden könnte. Was in manch einer europäischen Liga schon Standard ist, ist für viele hiesige Fans eine Horrorvorstellung, die rechtsstaatlich fragwürdig ist.
Weitere Diskussionen über Fanrechte, -ansichten und generell über die Ansichten der Fanszene fielen im Laufe des Abends überraschend überschaubar ins Gewicht. Acloque vom Supporters Club Trier, dem Dachverband der Fangruppen der Eintracht, erzählte, dass ihm die Zuschauersituation aktuell mehr Kopfschmerzen bereite, als in der coronabedingten fußballfreien Zeit. Der Kauf einer Dauerkarte sei ihm nicht leichtgefallen. Im Endeffekt habe er sich für den Erwerb entschieden, um den Verein zu unterstützen. Die aktuelle Situation sei für ihn trotzdem nur schwer zu ertragen. Er möchte in der Kurve zusammenstehen, das echte Fußballgefühl fehle. Allerdings glaube er nicht, dass sich dies in naher Zukunft ändern wird.
Eintracht leidet unter Corona, kämpft sich aber durch
Hauptsächlich dreht sich der Abend über die Situation von Eintracht-Trier und über strukturelle Fragen bezüglich des Deutschen Fußballbundes (DFB) und der Deutschen Fußball-Liga (DFL). Für Ersteres war mit Jochem der ideale Ansprechpartner anwesend. Der Verein habe enorme Einnahmeeinbrüche an Spieltagen verzeichnen müssen. Allerdings sei der Verein wirtschaftlich nicht bedroht. Die Sponsoren haben Zusagen gemacht, die auch eingehalten würden. Eine Insolvenzgefahr habe vor wenigen Jahren bestanden, heute nicht mehr. Und das, obwohl mit der aktuellen Regelung von nur 350 Zuschauern im Stadion jeder Spieltag den Verein 15.000- 20.000 Euro kosten würde. Der Etat sei gedeckt und man sei in Gesprächen, die Zuschauerkapazitäten sukzessiv nach oben zu schrauben. Ab 1.200 bis 1.500 Besuchern könne man dann entspannter die Zukunft planen.
Die wirtschaftlichen Folgen bei den Profivereinen löst durch die Reihe Unverständnis aus. Dass Vereine wegen einer ausbleibenden Rate an Fernsehgeldern von der Insolvenz bedroht waren, sei ein Symptom der Situation des deutschen Fußballs, so unter anderem Keuser und Fusenig. Das Geschäft sei viel zu schnelllebig, sagt der neue Fanbeauftragte. Das würde er auch außerhalb des Fußballs mitbekommen, Gewinne würden sofort in neue Investitionen fließen. Zu kurz käme dabei, ausreichende Rücklagen zu bilden.
Das sieht auch Lukas Keuser, Leiter des Fanprojekt Triers, so. In der Debatte über Obergrenzen von Gehältern und Provisionen, für der er sich ausspricht, plädiert er gleichzeitig für Mindestgrenzen. Es solle diskutiert werden, inwieweit ein gewisser Anteil eines Jahresergebnisses in Jugendarbeit, Infrastruktur, soziale Initiativen – zusammengefasst: Nachhaltigkeit – fließen sollte.
Kaum wirklich strittige Punkte
Der Grundtenor der Podiumsdiskussion fällt oft einhellig aus. Vorstandssprecher Jochem findet, dass sich der Fußball zu weit von der Basis entfernt habe – nicht erst seit Corona. Eine Aussage, die ausschließlich Kopfnicken als Reaktion hervorbringt. Trotzdem fallen die Ansichten über Konsequenzen, die folgen sollten, nicht immer gleich aus. Benjamin Judith stellt im Laufe des Abends mehrere Fragen, um Stimmungsbilder zu erheben. Eine hundertprozentige Übereinkunft findet dabei nicht statt.
Schon bei der Frage, ob es irgendwann nochmal so sein wird wie vor Corona, teilt sich das Teilnehmerfeld. Erstaunlich ist es, dass Etten und weitere Diskutanten sogar Optimismus verbreiten. Durch Corona gäbe es den Trend, den Sport wieder mehr vor der eigenen Haustüre zu erleben. Viele Fußballfans wären bis vor kurzem immer noch nach Kaiserslautern, Köln, Mönchengladbach und so weiter gefahren. Doch in Gesprächen entstehe immer mehr der Anschein, dass man das reine Erleben des Fußballs wieder als Privileg erfahren würde. Daher bräuchte man nicht mehr weite Wege auf sich zu nehmen, um das Erlebnis zu erfahren. Zudem findet eine zunehmende Entfremdung zum Profi-Zirkus statt.
Wird es wieder, wie es war?
Judith ergänzt, dass die TV-Quoten der Sportschau und Ticketverkäufe in den Niederlanden deutlich unter dem Niveau als vor den Spielbetriebsabbrüchen lägen. Für Raphael Acloque ein Beweis, dass man Fußball nur leben kann, wenn man in den Kurven und Tribünen ist. Für ihn ist das ein Anlass, Selbstdisziplin zu zeigen. Denn es ist klar, nur wenn die Infektionszahlen überschaubar bleiben, insbesondere in unserer Region, kann es langsam zurück zur Normalität gehen.
Ein weiterer großer Diskussionspunkt handelt darüber, wer Entscheidungen trifft und wie diese aussehen sollten. Einig war man, wenn auch nicht glücklich damit, dass die DFL eine herausragende Lobbyarbeit geleistet habe. Die schnellen Reaktionen der Politik und Wirtschaft, den Profi-Spielbetrieb wieder in Gang zu setzen, habe man sich für andere Bereiche des Alltags erhofft.
Unterschiedlich fällt wieder ein Stimmungsbild aus, ob Entscheidungen häufiger bundesweit einheitlich ausfallen oder ob die regionalen Zuständigkeiten bewahrt bleiben sollten. Auch bei der bereits angesprochenen Debatte über Gehaltsobergrenzen fallen die Meinungen unterschiedlich aus. Bei diesem Thema entstand die kontroversteste Diskussion unter den Teilnehmern. Jochem, der sich als wirtschaftsliberal bezeichnet, ist gegen zu starke Eingriffe. Tim Etten teilt seine Sicht, beide glauben nicht, dass man international Übereinkünfte erzielen könne. Außerdem müsse man Grenzen ziehen, doch wer hätte die Hoheit dies zu tun?
Debatte über internationale Regeln
Kessen hinterfragt diese Feststellung, das Financial Fair Play sei ein Gegenbeispiel – sofern es denn konsequent angewandt werden würde. Fusenig und Acloque sind ebenfalls der Ansicht, dass internationale Regelungen zumindest erstrebenswert seien.
In der Abschlussrunde fragt Judith die Gesprächsteilnehmer, wie die jeweilige Situation in fünf Jahren aussehen solle. Unisono sehen die Perspektiven positiv aus. Mit neuem Zusammenhalt innerhalb der Fanszenen, besseren Image durch solide Vereins- und Jugendarbeit und einem noch immer existierenden Fanprojekt – mit allem zusammen wird es auf die 3. Liga und einem Zuschauerschnitt von 7.000 hinauslaufen, wie Tim Etten erwartet.
Zur Verabschiedung wird es dann noch einmal emotional. In der schwierigen Situation des Exhauses stiftet Moderator Judith zusammen mit allen Anwesenden ein Standing Ovation für Lukas Keuser und Katja Morneweg vom Fanprojekt. Auf dass ihr Engagement und ihr Atem noch möglichst lange für Fan- und Jugendarbeit anhalten möge.
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