Prüm, wo das Eifel-Literatur-Festival vor 27 Jahren seine Premiere hatte, war im aktuellen Festival 2021 zum ersten und einzigen Mal Schauplatz einer Lesung. Und es ging um ein Thema, das besonders gut zu einem Ort im ländlichen Raum passt. Dörte Hansen, Autorin des Bestsellers „Altes Land“ stellte ihren Folgeroman „Mittagsstunde“ vor. Er erzählt vom Wandel des ländlichen Lebens mit Einsetzen der Flurbereinigung ab den 1960er Jahren, vom Verschwinden einer bäuerlichen Welt.
„Wenn die Provinz ruft, bin ich da“, grüßt Dörte Hansen die Hunderte Menschen, die in der Karolingerhalle und per Livestream von zuhause gespannt auf ihre Lesung warten. Die Einladung zum ELF habe sie sehr gefreut, denn das Festival sei ihr ein Begriff gewesen. Doch die Nordfriesin bekennt, sie habe zunächst nachschauen müssen, wo Prüm überhaupt liegt. Dann der Blick in die Fahrpläne: „Husum – Prüm mit der Bahn?!“ Lachen im Saal. Da hat sie mit ihrem trockenen Humor schon alle Sympathien auf ihrer Seite, und ist auch schon mitten im Thema. Die am Abend zuvor als nächste Stadtschreiberin von Mainz Gekürte, sagt von sich: „Ich bin eigentlich Dorfschreiberin“.
Charaktere in jedem Dorfkosmos
Gegenstand ihres zweiten Romans „Mittagsstunde“ ist das Dorf Brinkebüll in Nordfriesland. Der Ort sei genauso fiktiv wie die Figuren, das zu betonen, ist Dörte Hansen wichtig. Denn sie erhält immer wieder Zuschriften von Menschen, die glauben, ihr Dorf und ihre Geschichte würden im Roman beschrieben. In Leseproben, die die Autorin vom Stehpult aus gibt, erschließt sich, wie es zu diesem Eindruck kommen kann. Denn in so präziser wie bildhafter Sprache erwachen Charaktere zum Leben, die es als Typen in jedem Dorfkosmos gibt. Da ist die „verdrehte“ Außenseiterin, Marret Feddersen, genannt „Marret Ünnergang“, weil sie überall Zeichen des Weltuntergangs sieht. Da ist Ingwer Feddersen, ihr unehelicher, von den Großeltern aufgezogener Sohn. Er hat es hinaus in eine akademische Laufbahn als Archäologe geschafft. Er bleibt aber im Zwiespalt zwischen Scham über seine Herkunft und Anhänglichkeit ans Dorf stecken. Da ist Dorfschullehrer Steensen, der, gewöhnt daran, neun Jahrgänge gleichzeitig zu unterrichten, pädagogischen Neuerungen ablehnt und weiterhin die alte Heimatkunde lehrt. Oder da ist Bauer Heini Wischer, der ins Nichts geworfen wird, weil er seinen unrentablen Hof und die Tiere aufgeben muss, die seinem Tagesablauf Struktur gaben. Ihnen allen schneidert Dörte Hansen mit liebevollem Augenzwinkern und hintergründigem Humor Erfahrungen auf den Leib, die Generationen auf dem Land Aufgewachsener teilen können.
Schlagertitel als Kapitelüberschriften
Besonderer Kunstkniff ist, dass sie als Kapitelüberschriften Schlager- oder Songtitel nutzt. Mit denen die Romanfiguren, aber auch die Lesenden emotionale Verbindungen zu einer Zeit oder zu bestimmten Erfahrungen herstellen können. Warum dieses Buch, und wie ist es entstanden? Im Gepräch mit Dr. Josef Zierden erklärt die Autorin, dass es ihr beim Schreiben nicht um Erfolg, sondern um die Auseinandersetzung mit persönlichen Fragen geht. In diesem Falle um ein unspezifisches Gefühl des Verlustes, das sich ihr beim Betrachten ihrer flurbereinigten Heimat aufzwinge. „Was ist eigentlich ab den 1960er Jahren mit uns passiert? Warum ist so schnell eine ganze Welt verschwunden?“ Sie habe Figuren konstruiert, um dieses Thema übersetzen zu können. Dabei habe sie in erster Linie die Bedeutung der Flurbereinigung in den 1960er Jahren für die Menschen verstehen wollen. „Es war das Gefühl der Teilhabe am Fortschritt, weg vom Bauerntölpel-Dasein, weg von der Drangsalierung durch die Natur, eine Umkehrung der Macht. Die Leute haben geglaubt, sie können über die Natur gewinnen.“ Sie verurteile diese Haltung nicht, sondern sehe sie vor dem Hintergrund der damaligen Zeit. Selbst Kind des Wandels fiel es ihr unendlich schwer, einen Roman zu formen, der von der alten Welt erzählen sollte, ohne sie zu verklären. Hansen ist auf dem nordfriesischen Land aufgewachsen, liebte Schlager und profitierte wie ihr Romanheld Ingwer Feddersen vom Bildungsfortschritt.
„Schreibe ich noch, oder bin ich schon blockiert?“
Ein Jahr lang währte allein die Arbeit am ersten Kapitel, dem Fundament. „Ich habe mich gequält, ich drehe jeden Satz 150mal um. Da floss kein Herzblut, da wurde gemeißelt, es war echte Knochenarbeit. Ich kann immer nur weiterschreiben, wenn der Satz vorher stimmt“, beschreibt Dörte Hansen. Sie habe sich mehr als einmal gefragt: „Schreibe ich noch, oder bin ich schon blockiert?“. Sie habe sich dann ein eigenes Büro gesucht, denn: „Als schreibender Mensch ist man für seine Familie eine Zumutung und umgekehrt“. Ihr Büro liegt in Husum und bietet vorne Blick auf den Hafen und hinten auf den Garten des Dichters Theodor Storm. Was aber nicht zwangsläufig inspiriert: „Ich sitze oft stundenlang da und starre die weiße Wand an“. Inspiration bietet ihr jedoch zuverlässig die halbstündige Hinfahrt mit dem Fahrrad, immer am Deich entlang. „Aber nur, wenn ich langsam fahre“, schmunzelt Hansen.
Die Schinderei hat sich auf jeden Fall gelohnt. Nicht nur, dass die Fans des Eifel-Literatur-Festivals in den Genuss kamen eine sympathische, geerdete, offene und humorvolle Autorin kennenlernen zu können. Dörte Hansen hat den Befindlichkeiten, Erinnerungen und Erfahrungen der Menschen auf dem Land eine Stimme gegeben. Allgemeingültig, wie eine Dame aus dem Publikum anmerkt: „Was Sie beschrieben haben, gilt für alle ländlichen Regionen, auch für uns in der Eifel“. Damit ist das Wunder von Dörte Hansens Erfolg vielleicht einfach mit ihrem sensiblem Gespür für das richtige Thema zur richtigen Zeit erklärt.
Pressemitteilung Eifel-Literatur Festival
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