Bevor wir ein paar Wort über unser Fundstück der Woche verlieren, sollte man unbedingt den verlinkten Youtube-Spot „Evan“ gesehen haben.
Trier / Newton. Der Spot wurde von der Initiative „Sandy Hook Promise“ in Auftrag gegeben, eine Organisation von Angehörigen des Amoklaufs an der Sandy-Hook-Grundschule in Newton, Connecticut im Jahr 2012. Am 14. Dezember vor vier Jahren erschoss der 20jährige Adam Lanza zunächst seine Mutter und fuhr dann mit deren Auto zur acht Kilometer entfernten Sandy Hook Elementary School. Mit drei legalen Waffen aus dem Besitz seiner Mutter verschaffte er sich Zutritt zur Schule und erschoss neben zwölf Mädchen und acht Jungen im Alter von sechs und sieben Jahren auch sechs erwachsene Frauen, die sich teilweise schützend vor die Kinder gestellt hatten. 27 Menschen starben, bevor der Täter sich selbst tötete. Ein eindeutiges Tatmotiv fehlt bis heute, im Laufe der Ermittlungen stellte sich der zurückgezogene und abgekapselte Lanza als Waffenfanatiker mit einer Faszination für Massenmorde heraus. Der Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School ist der drittschwerste an einer Schule in der Geschichte der Vereinigten Staaten.
Der zunächst unscheinbare Clip „Evan“ weckt die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf schockierende Weise, als die sanfte Love-Story durch einen das Schulgebäude betretenden Amokläufer jäh unterbrochen wird. Ein erneutes Abspielen des Videos zeigt, dass im Hintergrund ununterbrochen Zeichen für die Tat platziert waren, denen der Zuschauer bei der ersten Sichtung beim Folgen der Storyline schlicht keine Beachtung geschenkt hat. Die Inszenierung und das Spiel mit den zwei Ebenen ist nicht nur aus erzählerischer Sicht effektiv, sondern geht das Problem „Amoklauf“ komplexer und durchdachter an, als es ein Großteil der Medienlandschaft im Zuge eines solchen Ereignisses tut.
„Gun violence is preventable when you know the signs“, heißt es da im Abspann. Waffengewalt ist vermeidbar, wenn man (früh genug) die Zeichen erkennt. Damit manövriert der Clip recht diplomatisch um eine Forderung, die insbesondere im Zusammenhang mit dem Sandy Hook-Amoklauf oft gestellt wurde: eine Verschärfung des Waffenrechts in den Vereinigten Staaten von Amerika. Präsident Barack Obama forderte dies sichtlich betroffen in einer Fernsehansprache zwei Tage nach den Ereignissen: „Wir haben in den vergangenen Jahren zu viele dieser Tragödien durchgemacht.“ Aus europäischer Sicht ist es noch schwerer nachvollziehbar wieso die Mutter des Täters neben zwei Handfeuerwaffen auch noch ein halbautomatisches Gewehr im Haus benötigte, mit denen Lanza anschließend seinen kaltblütigen und scheinbar völlig zufälligen Massenmord durchführte.
Nicht nur die mächtige Waffen-Lobby sondern auch viele ganz normale Amerikaner sehen das anders und halten den 2. Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten nach solchen Taten für umso sinnvoller, der besagt, dass „das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden“ darf, weil „eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist“. Veröffentlicht wurde dieser Zusatzartikel am 15. Dezember 1791, nur wenige Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. Hinter diesem wichtigen historischen Tag verbirgt sich die Abspaltung der dreizehn britischen Kolonien in Nordamerika von der Kolonialmacht Großbritannien. Unabhängigkeitserklärung als auch der 2. Zusatzartikel stammen also aus einer Zeit, in der das Misstrauen gegenüber dem übermächtigen Staat zur Abspaltung und zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg führte, der acht Jahre wütete und an dessen Ende die Vereinigten Staaten von Amerika als erste Demokratie der Welt standen. Diese Vergangenheit ist existenziell wichtig, um die vorherrschende Waffen-Debatte und vor allem die vielen Befürworter zu verstehen. Das Misstrauen gegenüber dem Staat sitzt noch immer tief und hat erst dieses Jahr zur Wahlniederlage des politischen Establishments in Form der Demokratin Hillary Clinton beigetragen. Demzufolge fühlt sich ein erschreckender Prozentsatz der amerikanischen Bevölkerung mit schweren Waffen im Haus wohler als unbewaffnet. Dabei gilt als Grund nicht nur die Angst vor Kriminellen, sondern auch vor dem Staat selber, dem man auf keinen Fall zu viel Kontrolle über das eigene Leben einräumen will.
Der Clip „Evan“ suggeriert mit seiner Aussage „Gun violence is preventable when you know the signs“, dass es nicht nur die Waffengesetze, sondern viel mehr gesellschaftliche Probleme sind, die Ereignisse wie den Sandy Hook-Amoklauf verursachen. Ein Blick auf unsere eigene Geschichte untermauert diesen Ansatz, denn trotz scharfer Waffengesetze verzeichnete Deutschland in der Vergangenheit mehrere blutige Amokläufe. 2002 tötete der 19-jährige Robert Steinhäuser 16 Menschen am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. Sieben Jahre später ermordete der 17-jährige Tim Kretschmer 15 Menschen in der Albertville-Realschule in Winnenden, Baden-Württemberg. Beide Täter waren Einzelgänger mit Problemen in der Schule und verbrachten ihre Freizeit mit action-lastigen Videospielen, sogenannten Ego-Shootern.
Im Laufe der politischen Debatte wurden daraus „Killerspiele“, die fortan die Hauptschuldigen waren. Eine ganze Branche wurde kriminalisiert, der damalige bayrische Innenminister Joachim Herrmann zog im Laufe der „Killerspiel“-Debatte 2009 gar Vergleiche zur Kinderpornografie.
Weder in Deutschland, noch in den USA wurde nach solchen Ereignissen die jeweilige Gesellschaft unter die Lupe genommen. Die laxen Waffengesetze erleichtern dabei zweifellos die Umsetzung solcher Taten. Dennoch fällt auf, dass es in Kanada trotz ähnlicher Regeln beim Waffenbesitz nur eine verschwindend geringe Anzahl sogenannter Mass Shootings gibt, während in den USA jedes Jahr über tausend Menschen bei derartigen Taten ums Leben kommen. Die verurteilten Killer-Spiele werden weltweit von vielen Millionen friedlichen Menschen gespielt, auch in Deutschland. Gerade im Online-Gaming-Bereich entstehen daraus im sogenannten E-Sport sportliche Wettkämpfe verschiedener Teams, die in einem sozialen Gefüge ihre Fähigkeiten im jeweiligen Spiel trainieren, sich treffen, sich organisieren. Das von der Politik oft gezeichnete Bild des einsamen Gamers, der durch Software zum Massenmörder erzogen wird, könnte unpassender nicht sein.
Im unübersichtlichen Wirrwarr der gegenseitigen Schuldzuweisungen und schnell gefordertem politischen Aktionismus nach solchen Ereignissen, ruft die „Sandy Hook Promise“ mit ihrem Clip „Evan“ zu mehr Aufmerksamkeit im gesellschaftlichen Zusammensein auf. Denn letztendlich wird niemand zum Amokläufer, weil ein Ego-Shooter auf der Festplatte installiert ist oder eine Handfeuerwaffe im Waffenschrank ist. „Prevent Gun Violence before it starts“, heißt es am Ende des Videos. Das schließt eine Verschärfung des Waffenrechts in den USA nicht aus, zeigt aber, dass die Ursachen für solche Taten schon weit vor dem Griff zur Waffe liegen.
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