Experte für Weltanschauungsfragen Matthias Neff erklärt wieso – und was man dagegen tun kann.
Trier – „Man will uns über die Corona-Impfung Mikrochips einpflanzen, um unsere Gehirne zu kontrollieren, und die jüdische Elite hält unterirdisch Kinder gefangen, um deren Blut zu trinken“, – so oder so ähnlich klingen die Verschwörungstheorien von Corona-Leugnern und Antisemiten, die tagtäglich millionenfach über Messenger-Programme wie Telegram verbreitet werden. Eine regelrechte Fake-News-Pandemie in Zeiten von COVID-19. Verschwörungstheoretiker nehmen aktuelle Geschehnisse zum Anlass, ihre demokratiefeindlichen Parolen zu verbreiten. Die meist antisemitischen Grundmuster, die hinter der gezielten Desinformationskampagne stecken, haben allerdings eine lange Tradition. Auch christliche Milieus bleiben davon nicht verschont. Matthias Neff, Beauftragter für Religions-, Weltanschauungs- und Sektenfragen im Bistum Trier, beobachtet derzeit einen Boom in der Szene.
Das Internet macht’s möglich
Innerhalb kürzester Zeit verschmelzen einzelne Falschmeldungen zu aberwitzigen Verschwörungserzählungen, die hetzerische und populistische Sichtweisen verstärken. Das könne zur Folge haben, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt und der friedliche Austausch immer schwieriger wird. „Dass Verschwörungstheorien eine so große Rolle spielen wie heute, habe ich noch nie erlebt – nicht mal bei 9/11 oder der Bankenkrise 2008“, sagt Matthias Neff, der auf rund 20 Jahre Arbeit im Themenfeld Weltanschauung zurückblickt. Doch wie kommt es überhaupt dazu? „Verschwörungstheorien sind Versuche, die Welt zu erklären“, so Neff. „Sie tauchen auf in Zeiten von Umbrüchen, in schwierigen Situationen, wenn das Leben der Menschen in großem Umfang verändert wird. So wie jetzt – in der Pandemie.“
Im Gegensatz zu Religionen, die ebenfalls Deutungsangebote liefern, seien Verschwörungstheorien davon geprägt, dass sie komplexe Zusammenhänge stark vereinfachten. Hinzu komme, dass ihre Anhänger, wie zum Beispiel die rechtsextreme QAnon-Bewegung, ein tiefes Misstrauen gegenüber anderen Menschen hegten, etwa weil diese einer anderen Ethnie angehören oder anderer Meinung sind. Bedrohlich werde es dann, wenn der Wunsch, sich abzugrenzen und überlegen zu fühlen, in Aggression und haltlose Verdächtigungen münde. Ein Beispiel dafür ist die Fama von einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung. Doch: Was tun, wenn Bekannte, Freunde oder gar Familienmitglieder in den Sog der Parallelwelt geraten?
Bei menschenverachtenden Ansichten ist Schluss
„Es kommt darauf an, wie weit sich jemand schon in diese Welt zurückgezogen hat“, erklärt Neff. Anfangs helfe es noch, haltlose Behauptungen mit Fakten zu entkräften. Hilfestellung bieten dabei seriöse, unabhängige Organisationen wie die Deutsche Presse Agentur (dpa). Sie überprüfen Behauptungen und machen ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich. „Jede rationale, faktenbasierte Diskussion ist wichtig, denn wir befinden uns zurzeit in einer für uns alle belastenden Lage.“ Könne dieser Umstand nicht mehr kontrovers diskutiert werden, wäre das ein schlechtes Zeichen für eine Demokratie, gibt Neff zu bedenken. Zweifeln und kritischen Fragen muss man stets Raum lassen. Hilfreich sei es, nicht aus den Augen zu verlieren, was einen trotz der Differenzen mit dem Gesprächspartner verbinde – und das besonders in hitzigen Diskussionen.
Auch dürfe die persönliche Situation der Gesprächspartner nicht außer Acht gelassen werden. „Man muss die Probleme der Menschen und die daraus resultierenden Ängste ernst nehmen, wenn jemand beispielsweise aufgrund der Pandemie arbeitslos wird und um seine Existenz bangt“, betont der Sektenbeauftragte. Der Versuch, die Kontrolle zurückzugewinnen, endet bei vielen jedoch im Scheuklappenmodus – Fakten werden schlicht ausgeblendet. Der Nebeneffekt: Angehörige und Freunde wenden sich ab, die Rückkehr in die echte Welt wird immer unwahrscheinlicher. Oft behaupten Verschwörungstheoretiker, „endlich die Wahrheit entdeckt zu haben“. Ein gefährlicher Trugschluss, wie Neff erläutert: „Wenn jemand schon so weit abgedriftet ist und nicht mehr davor zurückschreckt, menschenverachtende Inhalte zu verbreiten, wird es gefährlich. An dem Punkt endet dann auch mein Verständnis.“
„Verschwörungstheorien aus den eigenen Reihen sind schwer erträglich“
Besonders prekär ist es für gläubige Christen, wenn Verschwörungstheorien, die mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar sind, aus den eigenen Reihen kommen. Neff nennt als Beispiel den antijüdischen Anderl-Kult, dem eine Legende aus dem späten Mittelalter zugrunde liegt. Der angebliche Ritualmord an dem Nordtiroler Knaben Anderl von Rinn durch Juden ist eine Verschwörungserzählung, die dem katholischen Milieu entsprang. Erst im vergangenen Jahrhundert wurde die Verehrung des Kindes vom Vatikan untersagt, doch noch bis 1994 fanden offizielle jährliche Wallfahrten zu der Pfarrkirche in Rinn statt, in der die Gebeine des Jungen bis 1985 beigesetzt waren. Die „Judenstein-Sage“ findet sich auch in dem Band „Deutsche Sagen“ der Gebrüder Grimm.
Juden, die nach dem Blut von Christenkindern lechzen: ein Motiv, das bis heute Konjunktur hat, wie der QAnon-Mythos von den unterirdisch eingekerkerten Kindern zeigt. Äußerten dann – wie im Mai vergangenen Jahres geschehen – hochrangige Kleriker wie der ehemalige Leiter der römischen Glaubenskongregation und emeritierte Bischof von Regensburg Gerhard Kardinal Müller abwegige Andeutungen, „ist das natürlich schwer erträglich“, so Neff. Der Kardinal und andere namhafte Geistliche verlautbarten damals, die Corona-Pandemie werde genutzt, um eine neue Weltregierung zu schaffen. „Beruhigend fand ich, dass das bei vielen im kirchlichen Bereich auf Empörung und Ablehnung gestoßen ist. Es ist wichtig, alles zu tun, damit diese Vorstellungen uns nicht auseinandertreiben und wir uns nicht gegenseitig aufgeben.“
Kostenlose Online-Veranstaltungen
Es ist nicht immer leicht, menschenverachtende Verschwörungstheorien direkt zu entlarven und populistischen Aussagen Paroli zu bieten. Rüstzeug dafür erhält man in den kostenlosen Online-Veranstaltungen des Bistums Trier, wie dem Seminar „Widersprechen Sie!“ unter der Leitung von Jürgen Schlicher (Trainer für Diversity Management, Nichtdiskriminierung, Interkulturalisierung) am 13. Februar, 10 bis 15 Uhr. Interessierte können sich anmelden bei der Abteilung Ehrenamtsentwicklung im Bischöflichen Generalvikariat unter Tel.: 0651-7105-566, per E-Mail. Weitere Infos dazu gibt es auf der Internetseite. Bereits am 26. Januar, 18 Uhr, gibt es das Online-Seminar „Antisemitismus in der Coronaleugner- und Rechtsextremisten-Szene im Raum Trier“, organisiert vom Dekanat Trier unter der Leitung von Pastoralreferent Thomas Kupczik, Anmeldung via E-Mail, weitere Infos hier.
Pressemitteilung Bistum Trier
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