Für gleich mehrere Generationen war er das unverwechselbare Gesicht Deutschlands: Helmut Kohl, der gestern im Alter von 87 Jahren verstarb. Ganze 16 Jahre regierte er die Bundesrepublik – länger als jeder andere und einte in dieser Zeit das lange gespaltene Deutschland. Nicht umsonst gilt er bis heute als Architekt der Wiedervereinigung. Auch mit den ehemaligen Gegnern aus dem zweiten Weltkrieg strebte er dieses Kunststück in seiner politischen Laufbahn an. Am 5. Mai 1985 versuchte er genau das mit dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan an einer Kriegsgräberstätte mitten in der 5vier-Region.
Trier / Bitburg. Kolmeshöhe ist heute vor allem den Sportlern in Bitburg ein Begriff. Der an die Kriegsgräberstätte angrenzende Wald mit hübschen Aussichten auf die umliegende Eifel-Landschaft ist die perfekte Lauf-Location für den gestressten Kleinstadt-Bewohner. Das das körperliche Ertüchtigungs-Programm bei etwa 2000 Kriegs-Gräbern startet, die 1985 zusammen mit Helmut Kohl und Ronald Reagan im Fokus der internationalen Medien standen, scheint lange vergessen. Dabei war der Besuch des US-Präsidenten eigentlich als Signal gegen das Vergessen gedacht.
Schließlich jährte sich die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht im Jahr 1985 zum 40. Mal. Was als Versöhnungsgeste gedacht war, bei der neben den beiden Regierungschefs auch die ehemaligen Weltkriegsoffiziere und späteren Vier-Sterne-Generale Matthew Ridgway und Johannes Steinhoff zugegen waren und sich über den Gräbern die Hände reichten, erntete schnell ein Medienecho, das sich gewaschen hatte. Der Grund: auf dem Soldatenfriedhof ruhten mindestens 43 Soldaten, die eindeutig der Waffen-SS zugeordnet werden konnten, auf deren Gräbern der amtierende US-Präsident an jenem Tag einen Kranz ablegte.
Zusätzlichen Zündstoff erhielt die Debatte, da der Besuch nicht etwa aus naivem Unwissen geschah. Reagan handelte bewusst gegen das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten, das mit 390 zu 26 Stimmen gegen den Besuch in Bitburg abgestimmt hatte. Nach amerikanischem Verfassungsrecht war die Abstimmung für den US-Präsidenten nicht bindend, aber doch ein deutliches Signal aus seinem Heimatland. Reagan blieb dennoch standhaft: „Wir wollen die deutsch-amerikanischen Beziehungen zementieren. Deshalb habe ich die Einladung nach Bitburg angenommen und deshalb werde ich auch kommen.“
Nichts anderes wollte Bundeskanzler Helmut Kohl. Er wollte Deutschland wieder mit der Welt versöhnen und für eine neue Normalität sorgen, die die Vergangenheit nicht vergisst, aber auf gleicher Augenhöhe mit seinen Partnern in die Zukunft blickt. In seinen Memoiren, die auszugsweise im Hamburger Abendblatt veröffentlicht wurden, erinnert er sich:
„Was ich im März, April und Mai 1985 an Angriffen hinnehmen musste, machte mich persönlich sehr betroffen. (. . .).
Der Soldatenfriedhof am Stadtrand von Bitburg war im Jahr 1959 neu gestaltet worden; über zweitausend Soldaten (. . .) sind hier beigesetzt, Soldaten, die bei den Kampfhandlungen in diesem Raum gefallen waren und die man nach 1959 von den Friedhöfen der Gemeinden und Dörfer hierher umgebettet hatte. Dabei wurden auf diesem Soldatenfriedhof auch Soldaten der Waffen-SS beigesetzt – wie übrigens auf fast allen Soldatenfriedhöfen, die vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge betreut werden.
Es lagen also SS-Soldaten auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg – und über diesen Gräbern sollte der amerikanische Präsident eine Geste der Versöhnung zeigen? Das war zu viel für viele Reagan-Kritiker, zu viel für meine Kritiker. Doch wer sich mit der Geschichte der Waffen-SS beschäftigt, weiß, dass viele dieser blutjungen Soldaten gar keine Chance hatten, dem Einberufungsbefehl zur Waffen-SS zu entgehen.
Ich ließ mir damals die Namen und Daten von den Grabplatten notieren. Von den neunundvierzig namentlich auf den Grabplatten des Friedhofs in Bitburg aufgeführten SS-Soldaten waren zweiunddreißig an ihrem Todestag jünger als fünfundzwanzig Jahre. Es handelt sich also um im Alter von siebzehn, achtzehn und neunzehn Jahren Gefallene. Ihr junges Leben währte viel kürzer als die Zeit, die uns 1985 von ihrem Todestag trennte. Sie starben in einem barbarischen Krieg.
Wer sich der allgegenwärtigen Gewalt des Nationalsozialismus nicht entziehen konnte, der wurde in der einen oder anderen Weise immer in ihr Unrecht mit verstrickt: als junger Mensch in der Hitler-Jugend, als Soldat, oft als Beamter. Das Ausmaß solcher Verstrickungen war oft nur von Zufälligkeiten des Alters, den persönlichen Lebensumständen oder Willkürentscheidungen irgendwelcher Machthaber abhängig.“
Aus Band II der Memoiren des Alt-Bundeskanzlers, „Erinnerungen 1982 bis 1990“ (Droemer-Knaur); © Hamburger Abendblatt 2017 – Alle Rechte vorbehalten.
Rückblickend mag diese Einstellung naiv und ein wenig kurzsichtig erscheinen, aber das große Ganze war gerade auch im Hinblick auf den kalten Krieg für Kohl als auch für Reagan wichtiger. Trotz politischem Gegenwind landete die Air Force One am 5. Mai 1985 auf der US Airbase in Bitburg, von wo es für beide Staatsoberhäupter ohne große Umwege zum Soldatenfriedhof ging. Beide legten ihre Kränze nieder, die beiden Generäle reichten sich die Hände und die Zeremonie, um die wochenlang diskutiert worden war, war vorbei. Auf Youtube kann man sich auch heute noch von dem Ereignis überzeugen, u.a. die Berichterstattung inklusive der Reden beider Staatsoberhäupter:
Wie weit das Lärmen der Medienlandschaft auch damals schon reichte, zeigt sich auch am Echo der Popkultur. Am prominentesten sicherlich in Form des „Ramones“-Klassikers „Bonzo Goes To Bitburg (My Brain Is Hanging Upside Down)“, in dem die Punk-Institution den US-Präsidenten scharf kritisiert:
„You’re a politician
Don’t become one of Hitler’s childrenBonzo goes to bitburg then goes out for a cup of tea
As I watched it on TV somehow it really bothered me“
Auch der exzentrische Rocker Frank Zappa widmete dem außenpolitischen Skandalthema einen Song, der in seiner für ihn typischen experimentellen musikalischen Darbietung nur in Kennerkreisen bekannt ist…
Vielleicht beschreibt Frank Zappas kompositorisches Chaos die verzwickte politische Situation für Kohl und Reagan im Jahr 1985 gar am deutlichsten. Zwischen schwerfälligen Rhythmen entfaltet sich ein unübersichtliches instrumentales Chaos ohne vorhersehbare Taktstruktur, bevor es leiser wird und die verbleibenden Melodien unbeholfen durch die Stereo-Landschaft schleichen, so als wollten sie möglichst wenig Aufsehen erregen. Nicht mal Frank Zappa wusste, wo der Besuch eines US-Präsidenten im beschaulichen Bitburg hinführen würde. Für Helmut Kohl war es trotz heftigem Gegenwind ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer starken Koalition, einem geeinten Europa und einem wiedervereinten Deutschland.
Sein Tod kommt in einer Zeit, wo all diese Ideen und Werte ins Wanken gekommen sind. Die Welt braucht neue Architekten, die ihre Visionen ohne Hass und Angst aufbauen können, sonst sind befinden wir uns auf direktem Weg in eine Vergangenheit, mit der Reagan und Kohl vor über 32 Jahren eigentlich abschließen wollten…
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