Viele von uns sind noch aufgewachsen mit MTV und ganzen Nachmittagen voller Musikvideos. Heute ist das sogenannte Musikfernsehen quasi tot, aber das Format des Musikvideos hat die Bruchlandung von MTV & Co überlebt und sich in der digitalen Revolution weiterenwickelt. Heutige Bands produzieren ihre Clips selbst im semiprofessionellen Rahmen mit unfassbar hohem Arbeitsaufwand, um ihre Musik ansprechend auf Youtube, Facebook & Co zu präsentieren. Wir haben die lokalen Metalcore-Techniker von „Fortune Drives To Vegas“ zu ihrem ersten Musikvideo „Harm’s Way“ befragt…
Trier / Alf. Musikvideos sind älter, als man denkt. Erste Versuche, die man mit viel Fantasie in die Richtung deuten könnte, gab es bereits 1890, als in amerikanischen Theatersälen auf kolorierte Glasplatten gedruckte Bilder zu Live-Musik auf die Leinwand projiziert wurden. Es folgen Experimente aus Ton und Bild auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900. Erst 1906 gab es dann die erste Möglichkeit Bild und Ton für Filme zu synchronisieren, seit 1926 konnte man beides gar simultan aufzeichnen. 1938 folgten erstaunlich moderne Werbefilme, die an die heutigen Musikvideos erinnern und in den 1940ern gab es in Restaurants und Bars in den USA an Tonnen schweren Maschinen sogenannte „Soundies“ zu sehen, also kurze von Musik unterlegte Filme. In den 1960er-Jahren begannen Bands Promo-Filme zu veröffentlichen, so etwa die Beatles 1966/67 oder Queen mit der weltbekannten „Bohemian Rhapsody“ 1975. Letzteres gilt in der Musikwelt als das erste Musikvideo, das maßgeblich mit dem Erfolg der gleichnamigen Single verknüpft war. Daher sehen viele Experten den Queen-Hit als erstes richtiges Musikvideo.
Schnell wurden Musikvideos Salon-fähig, bekanntestes Bespiel ist vermutlich Michael Jacksons „Thriller“ aus dem Jahr 1982, welches in der ungeschnittenen Originalversion ganze 15 Minuten dauerte. Der Musiksender MTV trug in den 1980er-Jahren maßgeblich dazu bei, Musikvideos zu verbreiten, so dass aus dem neuen Produkt schnell ein Millionenmarkt wurde. In den 1990er Jahren kamen mehrere derartige Sender hinzu (in Deutschland bspw. VIVA), neue Formate entstanden und auch unbekanntere Genres fanden den Weg ins Musikfernsehen. Mittlerweile sahen Musikvideos aus wie Hollywood-Filme und verschlangen auch ähnlich hohe Summen. In den 2000er Jahren brach dieser Markt zusammen, das Musikfernsehen demontierte sich selbst mit nervötender Dauerwerbung und die Budgets für derartige Videos sanken ins Bodenlose. Dabei stand schon eine neue Plattform in den Startlöchern, wo man jederzeit selbst bestimmen kann, was läuft: Youtube.
Wir haben mit Gitarrist Leon Dören von „Fortune Drives To Vegas“ über das Format gesprochen. Erst am gestrigen Sonntag hat die junge Band aus Alf an der Mosel ihr erstes Musikvideo veröffentlicht, die wir erst letztes Wochenende in Wittlich auf den Brettern erleben durften (siehe auch Music Monday – Zwischen Technik-Orkan und Zuckerschock). Nun gibt es sie auch in Form eines qualitativ hochwertigen Clips auf Youtube zu bestaunen mit dem Song „Harm’s Way“.
„“Harm’s Way“ bedeutet Leidensweg und in dem Song geht’s darum, wie die Menschheit die Erde zerstört, ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass wir uns damit eigentlich nur selber zerstören.“, erklärt Leon. „Wir sägen quasi den Ast ab, auf dem wir sitzen.“ Die gesellschaftskritische Message war laut Dören auch ein Grund für die Song-Auswahl, der darüberhinaus natürlich auch musikalisch alle aktuellen Trademarks der Jungs beinhaltet: „“Harm’s Way“ stellt den Stand dar, wie wir klingen und wo wir auch weiterhin hin wollen. Einerseits die härteren Parts und auf der anderen Seite die zerbrechliche Atmosphäre.“
Passend dazu ist die sogenannte Galgenwage, die auch gleichtzeitig das Bandlogo ziert, fast der Hauptdarsteller im Video: „Wir haben die Galgenwage sehr viel in dem Video verwendet, die wir dann auch tatsächlich real nachgebaut haben. Die ist dann sowohl im Performance-Teil mit drin, als auch an verschiedenen Spots, wo wir sie aufgestellt haben. Die Galgenwage steht dafür, dass viele Menschen nur an materielle Befriedigung denken anstatt an die Welt in der wir leben. Die Idee war, dass wir sie in allen möglichen Kontexten platzieren.““
So wurde das Stück Handwerkskunst für das Video unter anderem mitten in der Koblenzer Fußgängerzone platziert. „Im Falle von der Fußgängerzone war das dann sehr crazy“, berichtet Leon. „Das Riesending stand da und alle Leute gingen vorbei und ignorierten das entweder oder guckten sich das an.“ Der eigentliche Performance-Part, in welchem man die Band spielen sieht, wurde im Band-eigenen Proberaum realisiert. Was im Video aussieht, wie ein atmosphärischer dunkler Wald, war in Realität ein schwarz ausgehangener Raum mit allerlei Ästen und Laub, was die Jungs sich für den Dreh in den umliegenden Wäldern zusammengesucht haben.
Entsprechend zeitaufwendig war dann auch die Produktion, die die Jungs mit dem befreundeten Filmer/Regisseur Sven Int-Veen, der auch bei den Koblenzer Krachmachern „Reset, Reflect“ mitspielt, realisierten: „Vielleicht war es ganz gut, dass uns anfangs nicht klar war, wie viel Arbeit das eigentlich werden würde. Wir hatten eine recht ambitionierte Idee, weil wir eben auch diese Galgenwage gebaut haben, was alleine schon 2 Tage Arbeit waren. Wir wollten auch nicht so ein blödes Hochglanz-Metalcore-Video, das sollte schon mehr in eine verstörendere Richtung gehen.“ Umgesetzt wurde das Video mit einer unscheinbaren Spiegelreflex-Kamera, die mittlerweile für den Großteil aller Hobby- und semi-professionellen Produktionen verantwortlich sind.
„Seit wir das Video gemacht haben, gucke ich jetzt auch ganz anders andere Musikvideos, mir fallen ganz andere Sachen auf und ich merke auch, dass ich mich da immer ziemlich respektlos durchgeklickt habe.“, so Leon Dören. Ein Blick auf Youtube zeigt zweifellos, dass derartiges „Durchklicken“ nicht von ungefähr kommt, schließlich ist das Videoportal ein zentraler Bestandteil der Musikindustrie geworden und hilft vor allem kleineren Bands enorm, ihr eigenes Produkt ansprechend an den Mann zu bringen. „Ich würde sagen, Videos werden was das Internet angeht immer wichtiger. Viele Leute schauen sich lieber ein Musikvideo an als einen reinen Audiotrack mit nur einem Bild im Hintergrund.“
Mit „Harm’s Way“ hat man jetzt auch bei „Fortune Drives To Vegas“ die Möglichkeit, die Jungs so richtig ansprechend in Szene gesetzt beim Ausüben ihres Magengruben-umschichtenden Handwerks zu beobachten. Die Qualität des Materials formt mit dem atmosphärisch-düsteren Song eine perfekte Symbiose, die immer um das geheime Epizentrum der Band, die Galgenwage, kreist. Nach dieser audiovisuellen Tour de Force muss man sich dann tatsächlich fragen, wieso man dem Musikfernsehen auch nur eine Träne nachweinen sollte. Dank Youtube können auch verhältnismäßig kleine Bands mit großen Ambitionen und mit viel Liebe zum Detail große Dinge kreieren, die trotz einem alles andere als massentauglichen Genre so ein Publikum finden. Und wer weiß, vielleicht findet sich ja sogar der ein oder andere neue Zuschauer, der Spaß an den ultrapräzisen Stakkato-Riffs und den mörderischen Double-Bass-Schüben findet…
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