Am Mittwoch, 19. Juni, kamen so manche aus dem Staunen nicht mehr heraus, als eine protestierende Masse auf dem Kornmarkt einmarschierte. Mit Schildern und Parolen taten sie ihre Zahlungsunlust kund, doch was nach Finanzprotest aussah, entpuppte sich als Premiere des Tufa-Projektes „Stadt in Aufruhr“.
„Trinken Sie das Wasser besser aus, die Polizei kontrolliert, ob man Essensbons hat“, ein gut gemeinter Rat der kleinen Frau mit dem ältlichen Dutt. Hat sie doch das Wasser heute Mittag erst eigenhändig aus dem vom wütenden Mob belagerten Aldi geklaut. Wer sich jetzt wundert, dass er noch nichts darüber in der Zeitung gelesen hat, darf beruhigt sein: Dieser Bericht kommt erst noch in einer der nächsten Ausgaben. Wahrscheinlich erst am 20. Juni 2025. In dieser Zeit spielt das Theater-Erlebnis des Tufa-Projekts, das am 19. Juni seine Premiere in Trier hatte. Von Laien und Theaterbegeisterten erdacht und gespielt, aber in keinster Weise laienhaft, wusste es die Zuschauer, beziehungsweise Mit-Erleber, zu begeistern.
Denn genau darum ging es, Mit-Erleben statt bloß Zuschauen. Frei nach dem Motto „Mittendrin statt nur dabei“ spazierte, demonstrierte und fühlte man mit der Gruppe von Darstellern einmal von der Tufa quer durch die Stadt bis zum Rathaus. Startpunkt war die Tufa, doch wer sich erst mal auf ein paar Minuten Sitzen und gedankliches Vorbereiten eingestellt hatte, der wurde enttäuscht, als gleich zu Beginn zu einem Spaziergang gerufen wurde. „Einmal rechts und dann noch mal rechts um die Ecke, bitte“, hieß es. Gemächlich und etwas zögerlich trottete die Menge los. Wer sich im Gelände der Tufa auskennt, der weiß, dass man nach zweimal rechts abbiegen auf dem Bauspielplatz rauskommt. Genau dies war die erste Station der „Stadt in Aufruhr“.
Könnte es dafür einen besseren Platz geben, als eine kleine Stadt inmitten einer großen? Eine Subkultur erbaut von den Kleinsten der Stadt. Das Flair von frisch gegründeter Stadt um die Jahrhundertwende herum lag auf den Bretterbuden. Ein Knirps gab eine kleine Stadtführung, erzählte die kurzlebige Geschichte der Häuser: Wie aus dem Bahnhof eine Eisdiele wurde, wie einem Kind bei einer Stadtprügelei ein Handknochen gebrochen wurde. An der anderen Ecke singt ein Urgestein alte Volksweisen aus Trier, die um die dargestellte Zeit wahrscheinlich gerade die Charts stürmten. Zwischendrin jagen Batman und Robin die verbrecherische Hütchen-Spielerin, die ehrbare Bürger um ihr hart verdientes Geld bringt. Da noch Geld für Werbung da ist, darf Robin dabei Batmans Cape im Wind wehen lassen. Ein Karl-Marx-Verschnitt ruft dann auf zur nächsten Station.
Mittendrin statt nur dabei
Nur wenige Schritte weiter biegt man ab, Ziel diesmal: ein paar Garagen und ein Atelier. Hier trennt man sich, eine Gruppe in das Atelier, andere Gruppen in die Garagen; im Atelier warten zwei Damen. Eine Frauen-WG, die gerade einen ganz großen Coup hinter sich gebracht hat: während eines Aufstandes im Aldi haben sie sich geschnappt, was tragbar war. Wegen Wasser waren sie eigentlich gekommen, doch im Jahr 2025, nachdem der Euro alles an Sicherheit verloren hat, sind die Preise gerade für Wasser mal wieder ins Unermessliche gestiegen.
So kann’s nicht weitergehen: der Filialleiter wird kurzerhand überwältigt und danach „eingekauft“, was nicht niet- und nagelfest ist. Was soll man denn machen? Die berechtigte Frage der Damen. Erst mal wird auf jeden Fall das erbeutete Wasser mit den durstigen Theaterbesuchern geteilt, danach zieht man weiter auf die Straßen, wo mal wieder einiges los sein soll.
Am Eine-Welt-Laden: Proteste. In der Neustraße: Proteste. Vor den Geschäften: Obdachlose. Am Straßenrand: Ordnungsleute. Die gerade verteilten Flaschen sollen am besten sofort ausgetrunken oder versteckt werden. Der Toilettenpapier-Verkäuferin will niemand ihre alten Zeitungen abkaufen, die Luxemburger Optikerfamilie sucht vergebens nach Arbeit, der bankrotte Banker spielt auf der Mundharmonika seinen Blues. Die Gruppe zieht weiter, von der Neustraße, über einen Parkplatz auf den Kornmarkt. Vorher werden Schilder verteilt und Parolen einstudiert: „Wir zahlen nicht!“, ruft die Menge und erschreckt das Servicepersonal der umliegenden Gaststätten. Protestierend sammelt man sich vor der Commerzbank, auch hier will die Menge noch nicht zahlen. Nachdem man Unmut bekundet und die Unterführung an der Galerie passiert hat, warten am anderen Ende ein Fernseher mit den Tagesthemen und ein Bus, der alle zum Rathaus bringen soll.
Hier geleiten Maskierte in Kutten, erkennbar als Occupy-Bewegung, zum Ratssaal, wo man Platz nehmen darf, um einer Volksabstimmung der ganz besonderen Art beizuwohnen. Per „Noise Choice“ sollen die Anwesenden und natürlich die Damen und Herren vor den Fernsehgeräten zu Hause den Gewinner eines Wettbewerbs küren. Man befindet sich im Jahr 2035, die Krise ist dank hervorragendem Expertenwissen bewältigt worden. Sicherheit, Ruhe und Stabilität sind wieder eingekehrt in der Eurozone. Eine der vier neuen Kräfte, Sicherheit, Unternehmergeist, Richtungsweise Jugendarbeit und durchgreifende Entscheidungen soll den Hauptpreis bekommen: 25 weitere Lebensjahre.
Ein unheimliches Bild wird hier gezeichnet, kein Bild von Stabilität und Ordnung, sondern von Kontrolle und Unfreiheit. Entscheidungen werden nicht mehr getroffen, sondern sie werden einem abgenommen. Der „Noise Choice“ soll nun entscheiden lassen, der Kandidat mit dem frenetischsten Applaus bekommt die zusätzlichen 25 Jahre. Doch da hat der Moderator nicht mit der Stimme des Volkes gerechnet. Das wartet nämlich schon vor den Toren des Ratsaals, um zu zeigen, was es von dieser Entwicklung hält.
Mehr davon!
Fazit: Bitte mehr davon! Eine gelungene Idee eindrucksvoll umgesetzt, mit engagierten Laiendarstellern der „Gruppe International“. Mehr als zuschauen. Mitfühlen und Miterleben waren hier angesagt. Die Botschaft bleibt hängen. Wohin führen die Entwicklungen uns, wie kann man handeln, wo liegt die Hoffnung begraben? Und wo ist die Schaufel, um sie wieder auszugraben?
Dieser „Theater“abend wird nicht nur den Kartenbesitzern noch lange im Gedächtnis bleiben, auch den Bedienungen und Gästen auf dem Kornmarkt, den Passanten zwischen Tufa und Rathaus und den Anwohnern der umliegenden Häuser. Eine interessante Entwicklung vollzog sich im Zuschauer, mehr als einmal musste man sich die Frage stellen, ob der Nebenmann in der Gruppe ein Darsteller oder auch bloß ein Zuschauer war. Die Frau mit dem Hut: eine Darstellerin? Die Gruppe Herren in den grauen Hemden, die scheinbar zufällig den Weg kreuzen: Darsteller? Der Mann im türkisfarbenen Hemd: Darsteller? Langsam aber sicher verschwommen die Grenzen, sodass sich sogar die Busfahrt zum Theater anfühlte, wie ein Besuch in einem Aquarium: Staunend durch die Glasschaube schauen oder staunend durch die Glasscheibe betrachtet werden? Eine Frage, die man sich auch im Alltag öfter mal stellen sollte: Bloß Zuschauen oder doch lieber Mitmachen?
Eine rundum gelungene Sache, die Einiges an Beachtung verlangt und auch verdient. Wer das nicht gesehen, oder besser miterlebt hat, der wird sich zu Recht ärgern.
Bildergalerie zu „Stadt in Aufruhr“
Fotos: Stefanie Braun
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