Casey Neistat beendet seinen Vlog und Millionen Youtube-User sind geschockt. Aber Moment, wer ist Casey Neistat? Und was ist ein Vlog? Und wie kann das Millionen von Menschen bewegen? Beim Internet-Videoportal Youtube hat sich eine Art Parallelgesellschaft gebildet mit eigenen Prominenten, Trendsettern und einem lukrativen Millionengeschäft für Werbekunden. Das Vlog-Ende von Casey Neistat ist sozusagen ein Kultur-Schock, von dem die Kultur noch gar nichts weiß.
Trier. Über Youtube Geld verdienen funktioniert in erster Linie über die Werbung, die vor oder während den Videos geschaltet wird. Bis zu 5 Euro pro 1000 Aufrufen zahlt Youtube seinen Usern im Gegenzug dafür. Das hängt natürlich vom Inhalt des Videos und der Branche ab, die an Werbung im entsprechenden Genre interessiert ist. Der Comedian verdient beispielsweise weniger als Youtuber, die sich mit Beauty- oder Technik-Produkten beschäftigen.
Daraus resultiert mittlerweile tatsächlich der Beruf des Youtubers, der abhängig von der Zahl der Abonnenten und Aufrufe extrem lukrativ sein kann. Die erfolgreichsten Zeitgenossen haben damit bereits zweistellige Millionenbeträge verdient, Rekordhalter ist der Schwede Felix Arvid Ulf Kjellberg, der bei Youtube als PewDiePie bekannt ist und mit sogenannten Let’s Plays rund 15,35 Millionen Euro verdient hat. In Deutschland kamen die nicht unbedingt Internet-affine Öffentlichkeit erst letztes Jahr so wirklich mit dem Phänomen in Kontakt, als LeFloid als erster Youtuber die Bundeskanzlerin interviewen durfte. In Deutschland spielt Youtube nur bei den 14- bis 49-jährigen eine Rolle und auch dort wird es oft nur zum Musikkonsum genutzt. Die Rolle für die Abendunterhaltung übernimmt in vielen Haushalten mehrheitlich immer noch das klassische Fernsehen. So wirkt die Youtube-Kultur, die oft mit den erfolreichen Videos mehr Menschen erreicht als die ARD mit dem abendlichen „Tatort“, wie eine kulturelle Parallelgesellschaft, die in einem neuen Zweig der Popkultur unterwegs ist. Die Generation zwischen 14 und 29 Jahre trägt dazu bei, dass sich das langsam ändert. So gibt es auch bei uns eine zunehmend erfolgreiche Szene, die mit mehreren Millionen Abonnenten (Rekordhalter zur Zeit Freekickerz mit fast 5 Millionen Abonnenten) und teilweise über einer Milliarde Aufrufen zu einem durchaus relevanten Werbezweig geworden ist. Auch die erfolgreichsten deutschen Youtuber können mittlerweile gut von Youtube leben, Hochrechnungen anhand der durchschnittlichen Werbeeinnahmen gehen von fünfstelligen Monatsgehältern aus.
Mit der gesteigerten Lukrativität hat sich auch die Produktionsqualität verbessert. Vorbei sind die Zeiten verpixelter Webcam-Videos. Youtube kann mittlerweile 4K, also die vierfache Full HD-Auflösung und erlaubt damit gestochen scharfen, perfekt produzierte Inhalte, egal ob Sketch, Produkttests, Tutorials oder Vlogs. Vlog – das ist ein Kunstwort aus „Video“ und „Blog“. Ähnlich wie ein Blog bezeichnet ein Vlog eine Website oder einen Youtube-Kanal, wo regelmäßig neue Einträge in Form von Videos erscheinen.
Casey Neistat ist einer der prominentesten Youtuber, der in den vergangenen 1 1/2 Jahren täglich neue Inhalte in diesem Format produzierte: Daily Vlogs. Neistat setzte sich dafür nicht nur vor die Kamera und begann zu erzählen, sondern präsentierte die täglichen Episoden aus seinem Leben mit Zeitraffer-Sequenzen, Drohnen-Flügen und kurzen Filmausschnitten, die zur jeweiligen Situation passten. Er schnitt abrupt, begann eine Erzählung in der einen Location und führte sie erst in der nächsten fort, fummelte während dem Erzählen an der Kamera oder nahm sie an sich und fuhr auf seinem elektrisch angetriebenen Skateboard weiter. Neistat ließ seine 5,8 Millionen Abonnenten (zum jetzigen Stand) in rasant geschnittenen Video-Tagebüchern an seinem rasend schnellen Hipster-Lifestyle mit Tech-Gadgets, Smoothies und Flugreisen teilhaben und fand in all dieser ansteckenden Unruhe immer wieder Zeit über die grundlegenden Dinge des Lebens zu reden. Casey Neistat produzierte nicht nur einen belanglosen Zeitvertreib, sondern ein durchaus relevantes Sammelsurium, welches insbesondere von jungen Filmemachern geschätzt wurde, die die chaotische und dennoch effektive Erzähltechnik Neistats auseinander analysierten. So wurde Neistat’s Vlog zur täglichen Dosis Abenteuer für alle Daheimgebliebenen, die insgeheim auch vom Frequent-Traveller-Status mit coolen Tech-Gadgets im Gepäck träumten. Trotz einem geschätzten Vermögen von 1,5 Millionen Dollar, wozu seine Karriere auf Youtube maßgeblich beigetragen hat, war Casey Neistat alles andere als ein verwöhntes Manhattan-Kind, das irgendwann aus Langeweile mit Youtube anfing.
Er wurde 1981 in Connecticut geboren, war in der Schule nach eigenen Angaben eher schlecht und wurde im Alter von 15 Jahren von der Trennung seiner Eltern aus der Bahn geworfen. Er zog aus, wohnte bei Freunden, kam mit einem Mädchen in der Gruppe zusammen, die kurz darauf schwanger wurde. Neistat brach die Schule ab und wohnte fortan mit seiner Freundin bei Freunden und kam schließlich in einer Wohnwagensiedlung unter. Mit nur 17 Jahren wurde er Vater eines Jungen und konnte seine junge Familie nur mit Sozialhilfe und Aushilfsjobs über Wasser halten. In seiner Freizeit begann er Videos von seinem Sohn zu drehen und begann sich mehr und mehr für das Thema Film zu interessieren.
Als seine Freundin ihn drei Jahre später verließ, war das Interesse so groß geworden, dass er nach New York City zog, um dort Filmemacher zu werden. Das erwies sich zunächst als schwierig. Zusammen mit seinem Bruder Van produzierte er kleine Videos und erreichte 2003 mit „iPod’s Dirty Secret“ erste Bekanntheit (6 Millionen Zuschauer) – 2 Jahre bevor Youtube online ging! In dem Video deckte Neistat auf, dass er für einen neuen Akku seines 18 Monate alten Ipods 255 Dollar bezahlen müsse und sprühte fortan „iPod’s unreplaceable battery lasts only 18 months“ auf sämtliche Werbeplakate in New York City. Es folgte eine Videoserie namens „Science Experiments“, die er in der Wohnung seines Bruders filmte. Schließlich begannen die beiden Brüder eine TV-Serie über ihr Leben zu drehen und verkauften 8 Filme von je 25 Minuten an den großen US-Pay-TV-Sender HBO für knapp zwei Millionen US-Dollar.
Von dort machte Neistat allein weiter und drehte u.a. Werbevideos für Nike und Mercedes-Benz. 2010 öffnete er seinen Youtube-Channel und landete dort ein Jahr später mit dem Video „Bike Lanes“ einen viralen Hit. Über 18 Millionen Zuschauer haben seitdem mitverfolgt, wie er von einem New Yorker Polizisten einen Strafzettel für das Nicht-Benutzen des Fahrradweges erhält und fortan regelkonform ausschließlich auf der sogenannten „Bike Lane“ unterwegs ist. Autos, die in zweiter Reihe parken, ignoriert er bewusst und provoziert so eine Vielzahl von Unfällen mit Hindernissen jeglicher Art.
2015 gelang Casey Neistat sein größter Coup, in dem er einen täglichen Vlog ankündigte, den er fortan bis auf wenige Ausnahmen jeden Tag hochlud und sein Publikum seitdem auf beachtliche 5,8 Millionen ausgebaut hat. Jedes seiner Videos hat in der Regel deutlich über eine Million Aufrufe, am erfolgreichsten ist sein Erlebnisbericht von einem First Class-Sitz bei der Luxus-Airline Emirates auf dem Flug von Dubai nach New York. Sage und Schreibe 25,8 Millionen Menschen sehen „The $21,000 First Class Airplane Seat“. Vorgestern hat Neistat nun das Ende seines Vlogs verkündet und damit einen Sturm der Entrüstung in seiner beachtlichen Fanbase ausgelöst. Vorbei ist fortan die tägliche Dosis Fernweh, präsentiert von einem sympathischen, Kamera-schwingenden Chaoten, der mit einem elektrischen Board bewaffnet durch die Flughäfen dieser Welt jettet und sich jedes Mal wieder wie ein kleines Kind freut, wenn er zuhause in Manhattan ankommt, bevor er wieder – den Koffer hinter sich herpolternd – los muss.
Videos wird es von ihm auch weiter geben, nur eben nicht auf täglicher Vlog-Basis, so erklärt er kurz und bündig in seinem offiziell letzten Daily-Vlog. Am Ende bleibt nur ein schwarzer Bildschirm mit weißer Schrift: „the vlog is over“.
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