Von Martin Köbler
Über den 22. Mai, Ordnung bei den Ordnern und nackte Tatsachen
Er lag gestern wieder in der Luft, dieser Hauch von Geschichte, von Melancholie, von Gedanken an die Vergangenheit – an das, was gewesen ist und wohl lange Zeit nicht mehr sein wird, nicht mehr sein kann. Bereits früh morgens: unvorbereitet, noch in den tiefen Wirrungen der fließenden Übergänge zwischen dem Schlafen und dem Aufwachen kommen vier Zahlen in den Sinn. Gut, eigentlich sind es nur derer drei, da eine von ihnen doppelt vorkommt. Dennoch, wie ein Vorschlaghammer schleicht sich die Kombination „22.05.“ in das Unterbewusstsein und windet sich – eben sprichwörtlich „schlagartig“ seinen Weg zum vollsten Bewusstsein. Zweite Liga, heute auf den Tag genau vor fünf Jahren. Letzter Spieltag. Saarbrücker Ludwigspark. Die altmodische Anzeigentafel mit dem unwirklich gelblich-orangenem Schimmer zur rechten Hand der rund 2.500 Eintracht-Fans im Gästeblock. Sieben Meldungen aus dem Grünwalder Stadion in München. Und die langsam schleichende Ahnung, dass ein großer Traum bald ausgeträumt sein wird.
Heute auf den Tag genau vor fünf Jahren fand die goldene Zweitligazugehörigkeit der Eintracht ihr jähes Ende. Reingerutscht, am letzten Spieltag – wegen eines nicht geschossenen Tores. Doch der grausame Abstieg in die Drittklassigkeit des deutschen Fußballs sollte nur eine Zwischenetappe im surrealen Niedergang des Traditionsvereines von der Mosel sein. Fünf Jahre nach dem tränenreichen Abschied aus Liga zwei steht die Eintracht aus Trier am Abgrund – und man ist geneigt zu sagen, dass sie schon einen Schritt weiter ist.
Damit nicht genug – Anreise nach Mainz, das Dreieck Nahetal passierend und die A60 bis zur Ausfahrt Mainz-Finthen befahrend, gehen die Gedanken noch ein Jahr weiter zurück. Beim Passieren des Europakreisels kommt dann die Gewissheit: Morgen vor sechs Jahren befand sich der Eintracht-Tross auch auf dem Weg an den Dr.-Martin-Luther-King-Weg, damals, am 23. Mai 2004. Wieder letzter Zweitliga-Spieltag, die roten Null-Fünfer aus der Landeshauptstadt gewinnen gegen die blau-schwarz-weißen Null-Fünfer von der Mosel mit 3:0 und steigen erstmals in die Bundesliga auf – brechend voller Gästeblock, Sicherheitsvorkehrungen vor dem Stadion, welches aus den Nähten zu Platzen droht. Wir waren dabei, als der FSV Mainz 05 seinen größten Erfolg der Vereinsgeschichte feiern konnte.
Und dann – die Gegenwart. Saarstraße Mainz, eine Stunde vor dem Spielbeginn. Kein blau-schwarzes Auto, kein Trierer Kennzeichen in Sicht. Mit Wohlwollen 1.000 Zuschauer anstatt über 20.000. Vielleicht fünfzig, sechzig frustrierte und resignierende Fans im Gästeblock. Vierte Liga, vorletzter Spieltag. Und die Eintracht? Sie ist schon einen Schritt weiter.
Foto: Ein Häufchen Elend, fünf Jahre nach dem Zweitliga-Abstieg – Eintracht Trier.
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Man kann über Ordnungskräfte in deutschen Fußballstadien ja behaupten was man will. Wendungen wie „unkooperativ“, „arrogant“ oder „behäbig“ machen in den einschlägig bekannten Fanforen bundesweit nach jedem Spieltag die Runde. An dieser Stelle soll daher den Mainzer Ordnungshütern – speziell jenen hinter der schmucken Haupttribüne des Bruchwegstadions – ein großes Lob ausgesprochen werden. Mangels vorheriger Akkreditierung hätte manch Schreiberling dieser Seite rechtmäßig keinen Zugang in den Pressebereich gehabt und hätte sich sonst wo einen Platz im weiten Rund – pardon, im weiten Rechteck – suchen müssen. Was in anderen deutschen Stadien, beispielsweise im Fritz-Walter-Stadion zu Kaiserslautern zu einem Spießrutenlauf geführt hätte (so geschehen im Dezember beim Auswärtsspiel der Eintracht – ein unglaubliches Hin und Her zwischen Innenraum, Pressebereich, Haupttribüne und gegensätzlichen Ordneranweisungen) wird im sympathischen rot-weißen Mainz ohne Murren und bohrende Nachfragen akzeptiert. Mehr noch – die freundlichen Damen am Eintritt der Presse-Lounge reagieren äußerst zuvorkommend und rufen ohne mit den Wimpern zu zucken einen ebenso freundlichen jungen Mann herbei, der die Funktionskarten des heutigen Spiels verteilt. Daumen hoch in Richtung Mainzer Belegschaft!
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Kaum die Presselounge – die sich unmittelbar neben den Spielerkabinen auf der linken Seite der Haupttribüne des Bruchwegs befindet und einen direkten Zugang zum „Spielertunnel“ und somit zum Spielfeld offenbart – durch die freundliche Mithilfe der Ordnerschaft betreten, fällt das geübte blau-schwarz-weiße Auge auf ein schwarz-weißes überdimensional großes Poster direkt neben der riesigen Eingangsglastür. Es zeigt eine Choreographie des Mainzer Anhangs, eines Glücksrades gleich – wohl noch aus Zweitligazeiten, da sich an den fiktiven Speichenenden des „Rades“ die Vereinswappen einiger Mannschaften befinden, die sich über Jahre hinweg in der Zweitklassigkeit halten konnten. Hier die SpVgg Greuther Fürth, etwas weiter rechts kann man den MSV Duisburg zumindest vermuten – durch das Transparent und die darunter stehenden Mainzer Ultras sind viele der Embleme verwackelt. Alle. Alle bis auf eines. Am obersten Rand, sozusagen als „Hauptgewinn“, prangt mit bestechender Klarheit das Logo des SV Eintracht-Trier 05 e.V. hervor. Und mit ebenso bestechender Klarheit wird es den Pressevertretern der Eintracht und dieser Seite klar: Heute wären wir auf diesem Rad bestenfalls ganz unten, verschwommen in den Wogen der Masse, dem Knittern des Stoffes. Doch nur Bruchteile später folgt die Gewissheit, dass das Abdrucken des Emblems mit der stolz geblähten Porta Nigra auf den drei heiligen Buchstaben neben Vereinen wie Fürth oder Duisburg sich der auch nur geringsten Daseinsberechtigung entzieht. Denn es ist der 22. Mai 2010 – und eben nicht der 23. Mai 2004.
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Der 22. Mai 2010 ist also Realität, ebenso wie eine lust- und emotionslos aufspielende „Mannschaft“, die in der warmen Frühsommerluft der rheinhessischen Ebene noch nicht einmal versucht, zumindest den Anschein zu wahren, für die Eintracht das letzte Hemd zu geben. 0:2 zur Pause, gelb-rot für Michael Dingels, ein Sturmlauf der Zweitvertretung des Bundesligisten, der ein zweistelliges Ergebnis gerechtfertigt hätte. Sahr Senesie, der nach dem Spiel im Fernsehen verkündet, dass „jeder sein eigenes Ding gemacht hat“ in den letzten Monaten, dass so „ein Erfolg wie zu Saisonbeginn“ nicht möglich wäre. Roland Seitz, der sich mit anschauen muss, in welches Boot er sich hier gesetzt hat. Der Südwestdeutsche Rundfunk, der auf den Tribünen des Bruchwegstadions lange suchen muss, zwei Eintracht-Anhänger ausfindig zu machen, um sie nach ihren Gedanken rund um den Niedergang zu befragen. Dies alles sind die Fakten am 22. Mai 2010, fünf Jahre nach dem Abstieg aus der Zweitklassigkeit. Die nackten Fakten.
Es verkommt schon fast zur Ironie, dass das Highlight des Trierer „Supports“ dieser schon seit Wochen resignierenden immer weiter schrumpfenden Fangemeinde kurz vor dem Spielende durch einen mit Sicherheit nicht mehr ganz nüchternen jungen Mann ist, der unter grölendem Beifall des „Blocks“ sprichwörtlich sein letztes Hemd – und auch seine letzte Hose – für die Eintracht hergibt. Doch als Wertschätzung ist diese Geste wohl eher nicht zu verstehen – denn man war geneigt, dem jungen Mann eine laute Comic-Sprechblase hinzuzufügen: „Jungs da unten auf dem Rasen! Ihr könnt mich mal!“ Denn Gelegenheit hätten sie dazu allemal gehabt – in dieser 86. Minute am 22. Mai 2010.
Das waren sie wieder – die Worte zum Spiel, diesmal aus dem Bruchwegstadion zu Mainz von Platz 5 im Block C, der Pressetribüne. Bis zum nächsten Mal!
Foto: Anna Lena Bauer
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