Ein Mann aus Korschenbroich mit der Welle seines Lebens, ein „Golden Goal“ von Oliver Bierhoff und ein Trauma in England: 1996 feierte die deutsche Nationalmannschaft bei der Fußball-Europameisterschaft zuletzt einen großen Titel.
Bilder für die Ewigkeit
Es gibt Bilder im Fußball, die eine Ewigkeit im Gedächtnis haften bleiben und die auf Anhieb in den Erinnerungen lebendig sind. Am 30. Juni 1996 gab es eine ganze Fülle an solchen Momenten. Wie historisch dieser Abend auch im Sommer 2012 noch sein würde, damit war damals nicht zu rechnen, als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bei der EM in England mit 2:1 gegen Tschechien gewonnen hatte. Oliver Bierhoff war der Schütze des ersten „Golden Goals“ der Geschichte, ein Mechanismus, den die UEFA als Extra-Portion an Spannung in das Turnier eingebaut hatte. Das erste Tor in der Verlängerung entschied über Sieg oder Niederlage, über Glück oder Pech, über Pokal oder Pleite.
Für Tschechien war der Treffer der plötzliche Fußball-Tod, für Deutschland war der eher hilflose Linksschuss des Stürmers ein Augenblick der Ekstase, als Schlussmann Petr Kouba der Ball unglücklich über die Fäuste rutschte und im Zeitlupentempo vom Innenpfosten über die Linie trudelte. Bierhoff riss sich das Trikot vom Leibe, auf den Tribünen schwenkten Fahnen hin und her. Ein paar Spieler standen reglos auf dem Feld, geimpft vom alten Regelwerk, und warten scheinbar auf den Wiederanpfiff. Béla Réthy rief hingegen ein „Deutschland ist Europameister“ über das ZDF-Mikrofon in die Millionen von TV-Haushalten. Der 30. Juni 1996: Für die Nationalelf war dieser Abend in Wembley bis heute der letzte große Turniertitel.
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Und als Berti Vogts später ganz alleine vor die gewaltige Fankurve trat, da war dieser kleine 1,68-Meter-Mann aus Korschenbroich plötzlich gefühlte 3,28 Meter groß, als er zur Welle ansetzte. Jahrelang stand Vogts im Schatten von Lichtgestalt Franz Beckenbauer, der nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft 1990 das Amt des Nationaltrainers an Vogts weitergab – und mit dem begehrten Zepter auch eine Portion Druck. „Das tut mir leid für den Rest der Welt, aber wir werden für die nächsten Jahre nicht zu besiegen sein“, war der fatale Abschiedsgruß des „Kaisers“, den er Vogts als tonnenschweres Erbe hinterließ (im Video ab 2:14).
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Was folgte, war 1992 die Widerlegung der These durch das 0:2 im EM-Endspiel gegen die Big-Mac-Truppe von Dänemark und ein 1:2 im WM-Viertelfinale gegen Bulgarien.
Der Star ist die Mannschaft
„Der Star ist die Mannschaft.“ Es war der Satz von Vogts, der zur Legende wurde und der der geflügelte Spruch für die EM 1996. Personell bedeutete das für Rekordnationalspieler Lothar Matthäus, nach der Bundesliga-Saison 1995/96 Urlaub buchen zu dürfen. Angeblich auf Anraten der Platzhirsche Jürgen Klinsmann und Matthias Sammer bugsierte der Nationaltrainer Matthäus aus dem Kader, um Unruhe zu vermeiden.
An Typen fehlte es aber nicht. Ob es Feuerkopf Sammer war, der die Abwehr organisierte und das wichtige 2:1 gegen Kroatien erzielte. Oder Torwart Andreas Köpke, der 1996 wieder einmal seinem unfreiwilligen Hobby (Bundesliga-Abstiege sammeln) mit Eintracht Frankfurt nachgegangen war und dann alles andere als demoralisiert hielt. Oder der stille Dieter Eilts, der sich in jeden Zweikampf warf und der nach Otto Waalkes plötzlich zum berühmtesten Ostfriesen Deutschlands wurde.
Im Turnier zahlte sich das aus mit Geschlossenheit. Die Vorrundengruppe überstand Deutschland mit einem 2:0 gegen Tschechien, einem 3:0 gegen Russland und einem 0:0 gegen Italien. Im Viertelfinale wurde in einem aggressiven Duell Kroatien mit 2:1 bezwungen, im Halbfinale England in Wembley im Elfmeterschießen besiegt und das Finale gegen Tschechien letztlich im Kraftakt gewonnen. Das Motto von Vogts, der später im Tatort mächtig für den „Oscar“ des besten Nebendarstellers die Werbetrommel rührte, ging auf. Diese Mannschaft war ein Star.
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Feldspielertrikots für die Torhüter
Schwerer als diese unvergessliche Schauspielleistung war gewiss der Weg zum EM-Titel 1996. Deutschland wurde über das ganze Turnier von Verletzungen getroffen. Bereits zum Auftakt gegen Tschechien traf es Jürgen Kohler nach 20 Minuten schwer. Bis zum Finale zog sich die Misere durch. Der DFB druckte gar Feldspielertrikots für die Torhüter Oliver Reck und Oliver Kahn, die Medien diskutierten ernsthaft darüber, auf welchen Positionen die Schlussmänner auf dem Feld am besten aufgehoben wären. Zum Einsatz kam das Duo nicht. Ebenso wenig wie Jens Todt, der dank einer Sondergenehmigung vor dem letzten Spiel nachnominiert werden durfte. Das brachte dem Mittelfeldspieler noch eine Goldmedaille ein. Doch die wurde ihm, wie er neulich in der „11 Freunde“ erzählte, von einem dreisten Dieb einfach geklaut.
Schnurrbärte und Trikots von Stefan Kuntz
Das EM-Halbfinale 1996 gegen Gastgeber England bot Füllstoff, besonders für die reißerischen Boulevardblätter von der Insel. „Surrender! For you Fritz ze Euro 96 iz over”, titelte die “Sun”, die Fußballspiele gegen Deutschland in ihren Schlagzeilen gerne mal mit Krieg verwechselt. 30 Jahre nach dem WM-Titel wollte England erneut im eigenen Land triumphieren. Und als Alan Shearer nach drei Minuten zum 1:0 traf, sah es auch gut aus. Doch dank Stefan Kuntz gelang die Wende mit dem Ausgleich. Im Elfmeterschießen war dann Gareth Southgate (O-Ton von Kommentator Rubenbauer: „Gareth Southgate, ausgerechnet…“) der tragische Held und verschoss. Andreas Möller (O-Ton von Rubenbauer: „Ausgerechnet Möller!“) traf und verewigte sich (Anmerkung der Redaktion: ausgerechnet) nach dem Siegtreffer mit einem Statuen-Jubel (Anmerkung der Redaktion: ausgerechnet) vor dem englischen Fanblock.
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Wie tief der Stachel dieser Niederlage saß, zeigte sich vor der WM 1998, als die „Lightning Seeds“ ihren Hit „Three lions on the shirt“ auf den Markt brachten. Im Musikvideo ist zu sehen, wie die englischen Fans siegesgewiss durch die Straßen laufen, ehe ihnen die deutschen Schlachtenbummler begegnen, die alle (ausgerechnet) Schnubbis tragen und ein Trikot (ausgerechnet) mit der Namensaufschrift „Kuntz“ (siehe Video). Eine widerspenstige Hommage an sein Siegtor – und eine Anspielung auf das vulgäre Wort „Cunts“ (auf nähere Erläuterungen wird aufgrund des Jugendschutzes verzichtet), das im Englischen ähnlich klingt wie der Name des deutschen Angreifers.
Ein guter Tipp von Frau Vogts
Auf den EM-Zug sprang Oliver Bierhoff in letzter Sekunde auf. Doch während des Turniers 1996 spielte der damalige Angreifer von Udinese Calcio keine Rolle. Brummig saß der erfolgreiche BWL-Student (25 Semester) auf der Ersatzbank – bis zum Finale gegen Tschechien. Nach dem 0:1-Rückstand durch einen Elfmeter von Karel Poborsky brauchte Trainer Vogts einen Angreifer – und entschied sich für Bierhoff. (Ausgerechnet) der dankte die Einwechslung zunächst, als er eine Freistoßflanke von Christian Ziege zum 1:1 verwandelte und dann in der Verlängerung das erste „Golden Goal“ der Geschichte zum Turniersieg erzielte. Dabei war es nur einem Tipp von Monika Vogts zu verdanken, dass Bierhoff überhaupt im Kader war. „Nimm ihm mit, er wird es dir danken“, verriet Berti Vogts die Worte seiner Frau in einer Plauderlaune. So was nennt sich wohl weibliche Intuition. Ob Frau Vogts auch eine Joghurtfirma beraten hat, auf Bierhoff zu bauen, scheint mangels des Gesangstalent des Angreifers aber ungewiss.
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