Von Christian Kramer (Text und Fotos)
Seit Sonntag ist die Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine zu Ende. 5vier-Mitarbeiter Christian Kramer war vor Ort. Er hat die EM in der Ukraine als friedliches Fußballfest und die Ukrainer als gastfreundliches Volk erlebt. Hier zieht er ein Fazit der Reise.
Gewaltbereite, rechtsradikale ukrainische Hooligans, die deutsche Fans attackieren. Kriminelle, die auf Touristen aus Westeuropa warten. Hundemassaker. Wucherpreise für Hotelzimmer. Kaputte Straßen. Langwierige Grenzkontrollen. Die deutschen Medien zeichneten im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft ein Bild des Schreckens von dem EM-Co-Gastgeber Ukraine. Allen Befürchtungen zum Trotz verlief die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine im Großen und Ganzen reibungslos. Entgegen aller Horrorszenarien über die Zustände in der Ukraine erlebten meine Reisegefährten Patrick, Magnus, Raj, Martin, Jens und ich das östliche der beiden EM-Gastgeberländer während der EM als gastfreundliches und offenes Land.
Ukrainische Gastfreundschaft
Charkow, am Tag des Gruppenspiels der deutschen Nationalmannschaft gegen die Niederlande. Es ist später Vormittag. Patrick, Magnus, Raj und ich sind gerade aufgestanden. Raj und ich haben im großen Doppelbett in einem Zimmer unserer ukrainischen Gastgeberin Anna geschlafen. Patrick und Magnus auf dem Boden auf Matratzen. Nach den langen Autofahrten quer durch die Ukraine und einer langen Nacht auf der Fanzone in Charkow sind wir alle noch müde. Wir gehen nacheinander die Zähne putzen. Dann klopft Annas Mutter, die gemeinsam mit Anna in dem Appartment wohnt, an unsere Zimmertür und signalisiert uns, dass sie uns etwas zu essen gemacht hat. Wir können uns leider nur durch Zeichen mit ihr verständigen, da sie nur Ukrainisch spricht. Zum Essen gibt es typisch ukrainischen Borschtsch und ein paar Stückchen Kuchen, als Getränk dazu Fruchtsaft. Wir wissen zwar nicht, was für ein Saft es ist, aber er schmeckt süß und ist erfrischend.
Wir haben Annas Mutter schon richtig ins Herz geschlossen. Sie ist so hilfsbereit und behandelt uns, als wären wir ihre Söhne. Am Vortag hatte sie schon etwas Leckeres für uns gekocht und unsere Wäsche gewaschen. Wir fühlen uns sehr wohl bei unseren ukrainischen Gastgeberinnen, obwohl wir zunächst ein wenig geschockt waren, als wir das Haus von außen gesehen hatten. Ein elfstöckiger Plattenbau mit heruntergekommener Fassade. Auch das Treppenhaus sieht nicht besonders einladend aus. Das Haus stammt noch aus der Zeit der Sowjetunion und es war wohl nie das Geld da gewesen, um es zu sanieren. Es ist ein trostloser Anblick. Der Zustand des Hauses ist kein Einzelfall. Die Häuser in den Außenbezirken der ukrainischen Städte sehen fast alle so aus.
Die Zimmer in der Wohnung, in der Anna und ihre Mutter leben, wirken dagegen sehr gepflegt und sind recht modern eingerichtet. In dem Zimmer, in dem wir schlafen, sind die Wände in einem frischen Grasgrün gestrichen. An der Wand steht eine große Schlafcouch. Auf einem langen Sideboard steht ein Flachbildfernseher, in den Regalen stehen ein paar frische Blumen, auf der Fensterbank Topfpflanzen. Eine liebevoll eingerichtete Wohnung in einer trostlosen Gegend. Die beiden Frauen leben hier mit zwei Haustieren, einem Frettchen namens Sofie und einem Goldhamster. Sie haben viel Freude an den kleinen Tieren.
Wir machen uns fertig, weil uns um eins ein Fernsehteam von der ARD besuchen will, um uns zu filmen. Magnus ist Volontär beim Saarländischen Rundfunk und sein Chef hat den Kontakt hergestellt. Wir surfen noch ein wenig im Internet und warten auf das ARD-Reporterteam. Magnus bekommt einen Anruf, dass die Leute von der ARD unser Haus nicht finden. Sie haben kein Navigationssystem. Es heißt weiter warten. Eine halbe Stunde später sind sie da.
Sie erklären uns das Konzept für den Fernsehbeitrag. Anschließend filmen sie uns in der Wohnung und machen ein Kurzinterview. Der Beitrag wird nicht so lang werden, was gut ist, denn wir haben nicht viel Zeit. Wir wollen nämlich noch vor dem Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen die Niederlande auf die Fanzone gehen, wo das Spiel Dänemark gegen Portugal übertragen wird, um uns mit ein paar Bierchen auf das große Spiel einzustimmen. Mit den Reportern besprechen wir, dass wir sie in der Stadt am Shewtschenko-Denkmal treffen und sie uns auf die Fanzone begleiten.
Karneval auf der Fanzone in Charkow – Oranje Fans feiern schon vorm Spiel
Es ist vier Uhr und unglaubliche 37 Grad heiß, als wir uns mit der Metro auf den Weg in die Innenstadt begeben. Wir haben schon gehört, dass über 10.000 Holländer in Charkow sind. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine hat sich in eine holländische Hochburg verwandelt, weil die Stadt Austragungsort der drei Gruppenspiele der Oranje ist. Was uns aber erwartet, als wir die Metrostation verlassen, erschreckt uns schon ein bisschen. Lauter Menschen in orangefarbenen T-Shirts und Trikots und kaum ein Deutschlandtrikot in Sicht. Wir hoffen, dass uns die holländischen Fans wohlgesonnen sind und keine Hooligans unterwegs sind. Denn einige Fangruppen von Feyenoord Rotterdam und Ajax Amsterdam sind für ihre Gewaltbereitschaft berüchtigt.
Wir laufen noch etwas umher und bestaunen die ausgefallenen Kostüme der holländischen Fans, von denen sich viele als Frau Antje verkleidet haben, und dann begeben wir uns zum Schewtschenko-Denkmal, wo wir die ARD-Moskaukorrespondentin Ina Ruck, die lässig ein schwarzes T-Shirt von Metalist Charkow und einen Jeansrock trägt und uns gut gelaunt begrüßt, und die anderen Mitarbeiter des ARD-Teams treffen. Ich halte noch ein nettes Schwätzchen mit Ina Ruck und der Produzentin des Beitrags, während Raj und Martin noch kurz vor dem Denkmal interviewt werden. Dann geht es zur Fanzone. Das Kamerateam begleitet uns. Wir sind jetzt voller Vorfreude auf den Klassiker gegen die Holländer.
Wir betreten die Fanzone. Auch hier sind die Menschen in orangefarbenen T-Shirts und Trikots deutlich in der Überzahl. Aber nicht alle orange gekleideten Menschen sind tatsächlich Holländer. Viele Charkower waren von der Stimmung, die die holländischen Fans in den vergangenen Tagen in Charkow gemacht haben, derart begeistert, dass sie kurzerhand selbst zu Fans der Oranje mutiert sind. Die holländischen Fans haben am Nachmittag bereits eine Parade durch die Stadt gemacht, von der hier alle Leute schwärmen. Auf der Fanzone hatte der bekannte holländische DJ Armin van Buuren die holländischen Fans mit Trancesounds und einer imposanten Videoshow auf einer 128 Quadratmeter großen Leinwand schon mächtig eingeheizt. Die Stimmung auf der Fanzone ist prächtig.
Wie verabredet treffen wir unsere Gastgeberin Anna wieder und schenken ihr eine Eintrittskarte fürs Spiel. Sie freut sich riesig. Wir trinken noch ein Bier und schauen das Spiel Dänemark gegen Portugal. Zu unseren Freunden Martin und Jens haben sich ein paar hübsche Ukrainerinnen gesellt. Viele Leute nehmen uns in den Arm und wollen mit uns Fotos machen. Die Ukrainer und Ukrainerinnen freuen sich sehr darüber, gemeinsam mit westeuropäischen Fußballfans feiern zu können. „Viele Ukrainer hatten erstmals das Gefühl, wirklich ein Teil Europas zu sein“, erklärte Ruslana, einer der populärsten Sängerinnen der Ukraine in einem DPA-Interview: „Für euch EU-Bürger ist das Alltag – aber für unser nationales Selbstbewusstsein ist dieses Gefühl, zur großen europäischen Familie zu gehören, extrem wichtig. Das ist europäische Integration in Reinkultur. Die Fußball EM hat die Ukraine verändert.“
Gute Stimmung im Deutschland Block – Deutschland besiegt Holland mit 2:1
Wir gehen nach dem Ende des Gruppenspiels zwischen Dänemark und Portugal, das die Portugiesen 3:2 gewinnen, mit Anna zum Stadion und erleben einen fulminanten Auftritt der deutschen Nationalmannschaft. Die Stimmung im Deutschland-Block im Stadion ist überwältigend. Der ganze Block singt während des gesamten Spiels Fangesänge und feiert nach den Gomez-Toren den Torschützen mit „Mario Gomez“-Rufen. Nach dem Spiel gehen die Niederländer mit hängendem Kopf nach Hause und zollen uns Respekt für die gute Leistung unserer Nationalmannschaft. Alles ist friedlich. Es sind weit und breit keine ukrainischen Hooligans oder sonstige dubiosen Gestalten zu sehen. Die Schreckensszenarien, die im Vorfeld der EM in Bezug auf die Ukraine an die Wand gemalt wurden, haben sich als substanzlos erwiesen. Wir haben während unserer gesamten Tour keine aggressiven rassistischen Hooligans gesehen. Darauf, dass es in der Ukraine tatsächlich rechtsradikale Fangruppierungen gibt, wiesen nur Graffitis der Ultras von Dynamo Kiew mit Hakenkreuzen und dem Slogan „White Power“ an ukrainischen Autobahnraststätten hin.
Der Fall Timoschenko als Sinnbild für die ukrainische Politik
Die Ukraine hat sich während der Europameisterschaft als freundlicher Co-Gastgeber erwiesen. Sie hat die Organisation der Europameisterschaft gestemmt. Der Fall Timoschenko hat leider einen dunkeln Schatten auf die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine geworfen und verdeutlicht, dass die Hoffnungen, die viele Ukrainer in die orangene Revolution gesetzt hatten, in der Folgezeit enttäuscht worden sind. Die ukrainische Politik ist nicht demokratischer geworden. Das Land hat sich seit dem Amtsantritt von Präsident Janukowitsch immer mehr zu einem autokratischen System entwickelt, in dem Korruption und Vetternwirtschaft herrschen, Menschenrechte verletzt werden und die Pressefreiheit beschnitten wird. So kann man sich beispielsweise kritische Dokumentarfilme über die Vergangenheit und die Geschäfte des dem Präsidenten nahestehenden milliardenschweren Oligarchen Rinat Achmetow in der Ukraine im Internet nicht mehr ansehen, weil sie wohl von der Regierung entfernt worden sind. Der ukrainischen Bevölkerung, die sich während der EM als freundlicher Gastgeber präsentiert hat, wünscht man, dass bald politisch bessere Zeiten anbrechen, denn sie leidet unter der Korruption und Vetternwirtschaft der politischen Eliten am meisten.
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