Der Kampf gegen Rassentrennung und für politische Gleichberechtigung der Schwarzen im Amerika der sechziger Jahre ist untrennbar mit Martin Luther King verbunden. An einen biografischen Spielfilm hatte sich aber bislang noch niemand gewagt. Selma greift nun ein Kapitel aus dem Leben des Bürgerrechtlers heraus und zeichnet ein vielschichtiges Porträt einer beeindruckenden Persönlichkeit. Kein Historienschinken, sondern ein Film mit eindrücklicher Relevanz für die Gegenwart. Andreas Gniffke hat sich Selma im Trierer Broadway angesehen.
Die Oscar-Nominierungen endeten mit einer großen Enttäuschung, denn Selma, einer der großen Favoriten, wurde lediglich als bester Film und in der Kategorie für den besten Song berücksichtigt. Die Kritiker sparten nicht mit zum Teil harscher Kritik an der Entscheidung der Academy. Ein politischer Film über einen schwarzen Bürgerrechtler, dazu noch gedreht von einer Frau, das könnte eine zu schwere Hypothek gewesen sein. Vor allem die Nichtberücksichtigung von Regisseurin Ava DuVernay und Hauptdarsteller David Oyelowo sorgte für Unverständnis.
Der mit überwältigender Mehrheit von älteren weißen Männern besetzten Academy Rassismus und Sexismus vorzuwerfen ginge wohl etwas weit, doch Selma hätte sicherlich mehr verdient gehabt. Ana DuVernay gelingt es eindrucksvoll, das Leben einer Friedensikone nicht als Heldenepos zu inszenieren, sondern den Charakter Martin Luther Kings aus verschiedenen Blickwinkeln facettenreich zu beleuchten. Dabei bedient sie sich eines Kunstgriffs, denn ihr Film erzählt nicht das gesamte Leben des Bürgerrechtlers mit seiner Ermordung als tragischem Höhepunkt, sondern greift drei Monate heraus, an denen sich exemplarisch Kings Bedeutung zeigen lässt. Im Jahr 1965 war er mit dem gerade verliehenen Friedensnobelpreis unumstrittener Anführer seiner Bewegung mit der Möglichkeit, direkten Kontakt zu Präsident Lyndon B. Johnson (Tom Wilkinson) aufzubauen. Doch auch wenn er im Rampenlicht stand, zeigt der Film, wie intensiv innerhalb der Führungsriege über einzelne Entscheidungen diskutiert wurde und wie umstritten Kings Politik der Gewaltlosigkeit bei den radikaleren Flügeln der Bewegung war. Selma, eine Kleinstadt in Alabama, wurde zum Zentrum für den Kampf für freie Wahlen und das durchaus mit perfider Berechnung. Zwar war dort die Mehrheit der Bevölkerung in den sechziger Jahren schwarz, die Möglichkeit sich für Wahlen registrieren zu lassen, hatte aber nur eine verschwindend geringe Zahl von diesen. Den anderen wurde dieses Bürgerrecht mit fadenscheinigsten Begründungen und offen gelebtem Rassismus vorenthalten. Der für Gewaltexzesse bekannter Sheriff Jim Clark (Stan Houston) setzte auf offene Repression und Einschüchterung, unterstützt von Gouverneur George Wallace (Tim Roth), der aus seiner offen rassistischen Gesinnung auch vor Präsident Johnson keinen Hehl machte. King machte sich die explosive Mischung zunutze und brachte den Protest genau dahin, wo er garantiert eskalieren würde. Medienpräsenz inklusive. Man entschied sich, von Selma aus einen Marsch auf Montgomery, der Hauptstadt Alabamas, durchzuführen. Doch gleich der erste Versuch in Abwesenheit von King wurde von den Ordnungskräften vor den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit an den Fernsehern brutal niedergeschlagen. Der Präsident geriet unter Druck, die Verhandlungsposition der Bürgerrechtler hatte sich verbessert, doch dem Anführer kamen zunehmend Zweifel angesichts des vergossenen Blutes und des hohen Preises, den nicht nur er zahlen musste. Immer mehr Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen, nicht zuletzt aus der Geistlichkeit, schlossen sich dem Protest an, der nun nicht mehr aufzuhalten war.
Dass Ava DuVernay, die nach eigenen Angaben Historienschinken hasst, hier keine Geschichte aus einer lange abgeschlossenen Vergangenheit erzählt, wird mehr als deutlich gemacht. Schon im oscarnominierten Titelsong Glory von John Legend und Rapper Common wird der Bezug zur Gegenwart hergestellt und explizit auf die Ereignisse in Ferguson im vergangenen Jahr verwiesen. Der Tod des 18-jährigen Michael Brown, der von einem Polizisten erschossen wurde, löste weit über Ferguson hinaus Proteste gegen Polizeigewalt aus. Mehrere weitere Vorkommnisse befeuerten die Wut, vor allem der Tod des an Asthma leidenden Familienvaters Eric Garner im Würgegriff eines für gewalttätige Ausbrüche bekannten Polizisten sorgte für landesweite Empörung. Beide Polizisten wurden für ihr Verhalten im Dienst nicht bestraft, was weitere Proteste auslöste. Die feindliche Haltung der lokalen Polizei wie auch der Bundespolizei gegenüber den Protestierenden in Selma verweist eindeutig auch auf die Situation heute. Der Beitrag Martin Luther Kings, seiner Mitstreiter und vieler anderer Bürgerrechtler für das Ende der Rassentrennung und für die Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der Schwarzen, ist unbestritten, doch der von ihnen bereitete Weg ist heute längst nicht zu Ende. Und als rein amerikanisches Phänomen sollte man Alltagsrassismus und Intoleranz wohl besser nicht abtun. Ein wichtiger Film, ein guter Film und beileibe keine dröge Geschichtsstunde.
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