Text und Foto: Tatiana Kichkina
Jedes Jahr lädt der Evangelische Kirchenkreis Trier zum Beginn des Schuljahrs eine prominente Person ein, die zum Thema Bildung referiert und mit der die Zuhörer offen diskutieren können. Diesmal war diese Person auch provokant. Richard David Precht (49), Philosoph, Publizist und Autor, teilte am Montagabend, 15. September, seine Ideen, Gedanken und Vorschläge in der Halle der Konstantin Basilika mit.
„Um Wissen zu vermitteln, brauchen wir keine Schulen“
Zu welcher Wortgruppe gehört das Wort „manche“? Was ist Molmasse und wie berechnet man sie? Was ist die Goldene Bulle? Diese Fragen aus dem Schulprogramm stellte Dr. Precht dem Publikum am Montagabend und bekam jeweils nur eine oder zwei Meldungen. Könnt ihr diese Fragen spontan beantworten? Habt ihr Zweifel? Dann sagt ihr wahrscheinlich: „Kein großes Problem – was man nicht weiß, kann man immer googeln!“
Genau die Idee teilt auch Richard David Precht. Seines Erachtens nach sind die heutigen Technologien bzw. das Internet so gut entwickelt, dass man sich direkt mit allem Wissen der Welt verbinden kann. Handys, Smartphones, Google-Brille und … vielleicht bald auch Google-Kontaktlinsen? Das sind die modernen Instrumente der Wissensvermittlung, die jeder nutzen kann, um sich Zugang zu den unbegrenzten Informationen der Welt zu verschaffen. Braucht man denn dafür Schule? Laut Dr. Precht bestimmt nicht. Aber die Bildungsrevolution besteht nicht in der Abschaffung der Schule, sondern in der Umgestaltung des Systems. Die Schulbildung soll auf neue Ziele ausgerichtet werden.
„Sich selbst realistisch einschätzen lernen, im Umgang mit anderen“
Stellt euch eine Situation vor: Eine Person absorbiert wie ein Schwamm seit Kindeszeit Wissen aus verschiedenen Bereichen, egal ob in der Schule oder zu Hause. Was wird dabei im Endeffekt herauskommen? Das Kind kann ein Genie wie John Stuart Mill werden. Dieses Beispiel wurde von Dr. Precht absichtlich gegeben, weil dessen Schicksal ambivalent interpretiert werden kann. Einerseits wusste er schon als Teenager unglaublich viel, andererseits wurde er später sehr depressiv, enttäuscht und zum Suizid neigend.
Kompetenzen sollen zukünftig im Mittelpunkt stehen. Das heißt, Kinder sollen in der Schule auf das zukünftige Leben vorbereitet werden. Sie müssen nicht nur etwas wissen, sondern, noch wichtiger, etwas können. In der Realität gibt es keine Fächer, die komplett voneinander abgegrenzt existieren, so wie es keine Menschen gibt, die vollständig voneinander abstrahiert leben. Aus diesem Grund, laut Dr. Precht, müssen die nicht-kognitiven Fähigkeiten wie Zielstrebigkeit, Teamfähigkeit, Humor usw. berücksichtigt und entwickelt werden. Seiner Meinung nach ist das Schulsystem ein Relikt: die veraltete Architektur der Schulgebäude erinnert ihn an Kasernen, die Anzahl und Verschiedenartigkeit von Schulstunden pro Tag empfindet er als Übermaß, die Dauer des einzelnen Schulunterrichts stammt aus dem Mittelalter …
Wie sieht denn eine Lösung der so stark kritisierten Situation aus?
„Das Neue rechtzeitig denken, mitdenken und aktiv gestalten“
Richard Precht hat seinen Revolutionsplan vorgestellt. Hier sind die Hauptpunkte seines Programms.
Klassenunterricht nur am Anfang: Vom ersten bis zum sechsten Schuljahr soll der normale Klassenunterricht bleiben, sodass die Schüler das Allgemeine zusammen lernen.
Projekte statt Unterrichte: Ab dem sechsten Schuljahr soll der Unterricht durch von den Lehrern verschiedener Fächer ausgedachte Projekte ersetzt werden, die auf das reale Leben bezogen sind. Die Themen können von Geld über Technik bis hin zur Medizin variieren.
Einzelne Lernhäuser statt Klassen: In der Gesellschaft sowie in der Wirtschaft treffen die Menschen im Wettbewerb nicht einzeln aufeinander, sondern in Gruppen. Es soll daher kein Schulgebäude im klassischen Sinne mehr geben – es soll durch einen Campus ersetzt werden, in dem einzelne Lernhäuser miteinander in einer Art Konkurrenz stehen.
Individuelle Bewertungen statt Noten: Die heutige Schule bewertet nicht die Leistung eines Kindes, sondern seine Begabung. Es erigbt keinen Sinn, die Talente jeder einzelnen Person nach dem gleichen Maßstab zu benoten. Jeder Mensch hat seine eigenen Besonderheiten der Entwicklung: Tempo des Lernens, Neigungen zum einen oder zum anderen Bereich, erreichbares Niveau des individuellen Könnens. Deshalb sollen erstens die Zifferzensuren abgeschafft werden und zweitens keine allgemeinen Fristen für Klausuren existieren.
Lehrer: Praktiker statt Theoretiker: Lehrer müssen weniger arbeiten, sie brauchen vielmehr Kreativität und Zusammenarbeit. Es gibt auch Leute, die keine Lehrer sind, aber trotzdem pädagogisch begabt. Und leider auch umgekehrt. Die Hauptsache ist, dass die ausbildenden Lehrer nicht nur Methoden aufzählen und nennen, sondern diese passend verwenden können. Fachleute sollen auch zum Unterricht eingeladen werden, weil sie den Schülern viel Praktisches erzählen und beibringen können. Die einzige Voraussetzung für alle Lehrer: man muss ihnen zuhören können.
So funktioniert kreatives Lernen statt Scholastik.
Nun fragt ihr euch vielleicht: Wie ist dieses Programm realisierbar? Und wer wird dafür bezahlen?
Dazu hat sich Precht leider nicht so ausführlich geäußert. Aber einige Hinweise hat er doch gegeben: Frühförderung der Kinder und Kindergartenpflicht für alle ab drei Jahren (aus irgendeinem Grund aber nicht unbedingt ganztägig); Kompetenzbildung und –kompensation; Mündlichkeit ist wichtiger als Schriftlichkeit (Rechtschreibung steht nicht mehr im Mittelpunkt – das ist nun die Aufgabe des Computers). Die Revolution soll nicht von dem Bildungs- oder Kulturministerium durchgeführt werden, sie soll auf der Schulebene mithilfe von Beratungsteams aus verschiedenen Bereichen stattfinden. Finanzierung kann durch Teilnahme privater Unternehmen und Stiftungen sowie durch starke Reduzierung des Elterngeldes erreicht werden.
Richard David Precht ruft mit seinem Referat viele Reaktionen hervor: Der eine ist begeistert, ein anderer reagiert radikal kritisch darauf, wiederum andere vergessen sofort wieder, was er gesagt hat… Precht verneint aber nicht, dass die Ideen gar nicht neu sind, er hat sie einfach von verschiedenen Seiten aufgenommen, akkumuliert und quasi zusammengebastelt. Sie lassen weiterhin immensen Spielraum für weitere Diskussionen und Kritik.
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